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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit
Autoren: Roberto Zapperi
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(homerischen Monstern also) fallen. Obwohl er die Warnung ernst nahm, wohnte Goethe am Ende doch in dieser Locanda, wo er gut behandelt wurde, obgleich es dort tatsächlich eine «Sirene» gab, die, wie der englische Reisende vorausgesagt hatte, ihn mit allen Mitteln hereinzulegen suchte. Diese «Sirene» schien dem neuen Odysseus/Goethe eine durchaus reale Gefahr zu sein. So beschreibt der Dichter mit Hilfe einer mythischen Verkleidung nicht ohne Ironie eine Stadt, in der damals schon drückendes Elend und Eintönigkeit herrschten.
    In den Jahren meiner Kindheit war Catania eine träge Stadtohne Zukunft. Verfangen im Netz bigotter, kleinlicher und provinzieller Lebensgewohnheiten, fehlte ihr jede Perspektive eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Sie war beherrscht von einigen wenigen Notabeln, die gewöhnlich auch Eigentümer von großen Orangenplantagen oder anderen Ländereien in der Ebene von Catania waren. Es handelte sich nur zum kleineren Teil um Adlige, zumeist dagegen um Advokaten, Notare, Ärzte und Universitätsprofessoren, die aus purem Opportunismus natürlich alle Faschisten waren. Die Professoren vererbten ihre Lehrstühle den Söhnen, genauso wie es die Notare mit ihrer Kanzlei, die Kaufleute mit ihrem Laden und die Handwerker mit ihrer Werkstatt taten. Wer sich ein Bild davon machen will, wie man in den Jahren meiner Kindheit in dieser Stadt lebte, lese den Roman von Vitaliano Brancati
Il bel Antonio
, der unter dem Titel
Der schöne Antonio
auch ins Deutsche übersetzt worden ist. Hier findet man eine sehr zutreffende und zugleich ironische Beschreibung des Charakters der Stadt. In Catania kommandierte der Klerus, angefangen vom Erzbischof bis hin zum letzten Gemeindepfarrer am äußersten Rand der Stadt. Die Geistlichen mischten sich täglich in das Leben der Familien ein, wobei es ihnen wie üblich vor allem um die Sexualmoral ging. Es war ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, jeden Kontakt zwischen Frauen und Männern außerhalb der Ehe zu verpönen, wobei die Ehen natürlich von den Eltern für die Töchter arrangiert wurden. Die Frau war für die Männer von Catania ein mythisches Wesen, unerreichbar und unberührbar, ein Wesen, das von Fantasien und Träumen umwoben war, was dazu führte, dass die Männer ihre Sexualität in den überaus zahlreichen Bordellen der Stadt, die ganze Viertel füllten, befriedigten.
    Die in der Stadt herrschende bedrückende Atmosphäre wird auch an einer Episode deutlich, der ich selbst als Kind beiwohnte. Meine Eltern nahmen mich einmal ins Kino mit. Der Saal war sehr voll, und es brach ein kleiner Streit aus zwischen meiner Mutter und einer anderen Frau um einen freien Platz. Deren Mann begann darauf meine Mutter laut zu beschimpfen und forderte diesen Platz für seine Frau mit dem drohenden Satz: «Sie wissen nicht, wer ich bin!» Meine Mutter wusste tatsächlich nicht, wer er war, sie hatte nur versucht, sich einen Platz zu ergattern. Mein Vater, der diesen Mann dagegen flüchtig vom Sehen her kannte, flüsterte uns zu, dass es sich um einen bekannten Universitätsprofessor handele, um einen Angehörigen einer der wichtigsten Familien von Catania. Ich weiß nicht mehr, ob meine Mutter den Platz räumte. Aber die kleine Szene macht deutlich, dass die Gesellschaft in einer Stadt wie Catania ohne inneren Zusammenhalt war und Autorität brutal von oben nach unten ausgeübt wurde. Es gab kein Prinzip, das von allen, auch den unteren Schichten, anerkannt gewesen wäre. Die Geschichte meines Lehrers war ein beredtes Beispiel dafür, und es bedurfte keiner großen Erklärungen, um diese Situation auch einem Kind verständlich zu machen. Das prosaische Verschwinden unseres Hauswarts als enttäuschendes Nachspiel des heroischen afrikanischen Kriegs hatte jegliche Bewunderung für den operettenhaften Imperialismus, die ich vielleicht kurz gehegt haben mag, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lassen.
    Meine Begeisterung für die deutschen Soldaten wurzelte also in einem unerfüllten Bedürfnis nach Ordnung und Ernsthaftigkeit, im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die von einer allgemein akzeptierten, ideellenKraft reguliert war. Mir schien damals die eiserne Disziplin jener Soldaten ein Zeichen für so etwas zu sein. Auf diese falsche Fährte führte mich das perfekte Gleichmaß der Bewegungen bei den Märschen, die ich als eine spontane, ohne Zwang erfolgte Zustimmung zur Disziplin interpretierte und die umso auffälliger für
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