Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Eine Handvoll Worte

Titel: Eine Handvoll Worte
Autoren: Jojo Moyes
Vom Netzwerk:
schlimmer sein, als hätten wir uns nie wiedergesehen. Schlimmer.«
    »Zeigen Sie mir den Brief«, bittet Ellie.
    »Ich kann das nicht. Meinen Sie nicht, dass es manchmal besser ist, etwas nicht zu tun?«
    »Den Brief, Jennifer.«
    Jennifer holt ihn von der Anrichte, hält ihn einen Moment fest und reicht ihn dann Ellie.
    Liebste Jennifer,
    dürfen alte Männer weinen? Ich sitze hier und lese deinen Brief immer und immer wieder, und mir fällt es schwer zu glauben, dass mein Leben eine so unerwartete, frohe Wendung genommen hat. So etwas ist uns nicht bestimmt. Ich hatte gelernt, Dankbarkeit für die weltlichsten Geschenke zu empfinden: meinen Sohn, seine Kinder, ein gutes Leben, wenn auch ruhig verbracht. Überleben. O ja, immer überleben.
    Und jetzt du. Deine Worte, deine Gefühle haben in mir eine Gier geweckt. Können wir so viel verlangen? Wage ich, dich wiederzusehen? Die Schicksalsgöttinnen sind so unversöhnlich gewesen, ein Teil von mir glaubt, dass wir uns nicht treffen können. Ich werde durch Krankheit lahmgelegt, von einem Bus überfahren, gänzlich vom ersten Seeungeheuer in der Themse verschluckt. (Ja, ich lebe noch immer in Schlagzeilen.)
    In den vergangenen beiden Nächten habe ich deine Worte im Schlaf gehört. Ich höre deine Stimme, und dann möchte ich am liebsten singen. Mir fallen Dinge ein, die ich vergessen zu haben glaubte. Ich lächle in unangemessenen Augenblicken, jage meiner Familie solche Angst ein, dass sie schon loslaufen wollen, um mich auf Demenz untersuchen zu lassen.
    Die junge Frau, die ich zuletzt gesehen habe, war so gebrochen; zu wissen, dass du dir allein ein solches Leben eingerichtet hast, bedroht meine eigene Sicht der Welt. Sie muss ein wohlwollender Ort sein. Sie hat auf dich und deine Tochter aufgepasst. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Freude mir das gemacht hat. Indirekt. Mehr kann ich nicht schreiben. Daher wage ich es, mit Beklommenheit: Postman’s Park. Donnerstag. Mittag?
    Dein Boot x
    Ellie sind die Tränen gekommen. »Wissen sie was?«, sagt sie. »Ich glaube wirklich nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.«
    Anthony O’Hare sitzt auf einer Bank in einem Park, den er seit vierundvierzig Jahren nicht mehr aufgesucht hat, mit einer Zeitung, die er nicht lesen will, und er stellt überrascht fest, dass er sich an die Einzelheiten jeder einzelnen Gedenktafel erinnern kann.
    Mary Rogers, Stewardess an Bord der Stella , hat sich geopfert, als sie auf ihren Rettungsring verzichtete und freiwillig mit dem sinkenden Schiff unterging.
    William Drake hat sein Leben verloren, als er einen schweren Unfall von einer Lady im Hyde Park abwandte, deren Pferde nach dem Bruch der Deichsel durchgegangen waren.
    Joseph Andrew Ford hat sechs Menschen aus einem Brand in der Grays Inn Road gerettet, doch bei seiner letzten Heldentat verbrannte er.
    Er sitzt hier seit zwanzig vor zwölf. Jetzt ist es sieben Minuten nach zwölf.
    Er hebt seine Armbanduhr ans Ohr und schüttelt sie. Im Grunde seines Herzens hat er nicht geglaubt, dass das passieren könnte. Wie auch? Wenn man lange genug in einem Zeitungsarchiv verbracht hat, weiß man, dass sich dieselben Geschichten immer und immer wiederholten: Kriege, Hungersnöte, Finanzkrisen, verlorene Liebe, getrennte Familien. Tod. Herzschmerz. Nur wenige gehen glücklich aus. Alles, was ich hatte, war eine Zugabe, sagt er sich mit Nachdruck, während die Minuten im Schneckentempo vergehen. Ein Satz, der ihm schmerzhaft vertraut ist.
    Der Regen ist stärker, und der kleine Park hat sich geleert. Nur er sitzt noch im Unterstand. In der Ferne sieht er die Hauptstraße, die vorbeirauschenden Autos, die alle vollspritzen, die nicht aufpassen.
    Viertel nach zwölf.
    Anthony O’Hare ruft sich alle Gründe ins Gedächtnis, warum er dankbar sein sollte. Sein Arzt wundert sich, dass er überhaupt noch lebt. Anthony vermutet, dass er ihn längst zum abschreckenden Beispiel für andere Patienten mit Leberschaden erkoren hat. Seine robuste Gesundheit ist eine Rüge für die Kompetenz des Arztes, für die medizinische Wissenschaft. Er fragt sich, ob er tatsächlich reisen sollte. Er will nicht wieder in den Kongo, aber Südafrika wäre interessant. Kenia vielleicht. Er wird nach Hause gehen und Pläne schmieden. Er wird sich etwas zum Nachdenken geben.
    Er hört die quietschenden Bremsen eines Busses, den Schrei eines wütenden Fahrradkuriers. Zu wissen, dass sie ihn geliebt hat, reicht ihm. Dass sie glücklich war. Das müsste doch genug
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher