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Eine Handvoll Worte

Titel: Eine Handvoll Worte
Autoren: Jojo Moyes
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was weiß sie schon über sein Leben vor der Zeitung? Gar nichts.
    Der Artikel steckt in einem großen braunen Umschlag mit seinem Namen auf der Vorderseite. Sie schiebt ihn durch die Tür und lässt den Briefschlitz laut klappern. Sie geht wieder ans Tor, klettert hinauf, setzt sich auf die Backsteinsäule, an der es befestigt ist, und zieht sich den Schal um das Gesicht. Sie kann inzwischen sehr gut aussitzen. Sie hat festgestellt, dass es Spaß macht, der Welt um sich herum ihren Lauf zu lassen. Das geschieht auf sehr überraschende Weise.
    Auf der anderen Straßenseite winkt eine Frau einem heranwachsenden Jungen nach. Er zieht die Kapuze hoch, steckt die Stöpsel in die Ohren und schaut sich nicht nach ihr um. Weiter unten in der Straße lehnen zwei Männer am geöffneten Kühler eines großen Wagens. Sie reden miteinander und schenken dem Motor wenig Beachtung. »Du hast Ruaridh falsch geschrieben.«
    Sie wirft einen Blick hinter sich, und er steht im Türrahmen, die Zeitung in der Hand. »Ich habe viel falsch gemacht.«
    Er trägt dasselbe langärmelige T-Shirt wie beim ersten Mal, als sie miteinander sprachen, vom jahrelangen Gebrauch schlabberig geworden. Sie weiß noch, dass ihr seine Nachlässigkeit gegenüber seiner Kleidung gefiel. Sie weiß, wie dieses T-Shirt sich anfühlt.
    »Netter Artikel«, sagt er und hält die Zeitung hoch. »›Lieber John, Fünfzig Jahre Letzte Liebesbriefe‹. Wie ich sehe, bist du wieder das Goldkind vom Feuilleton.«
    »Vorerst. Eigentlich«, sagt sie, »ist einer dabei, den ich erfunden habe. Das ist etwas, was ich gesagt hätte. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte.«
    Es ist, als hätte er sie nicht gehört. »Und Jennifer hat zugelassen, dass du den ersten verwendest.«
    »Anonym. Ja. Sie war großartig. Ich habe ihr alles erzählt, und sie war toll.« Sein Gesicht ist ruhig, unbesorgt.
    Hast du gehört, was ich gesagt habe?, fragt sie ihn in Gedanken. »Ich glaube, sie war ein wenig schockiert, zugegeben, aber nach allem, was passiert war, glaube ich, es macht ihr nichts aus, was ich getan habe.«
    »Anthony war gestern hier. Er ist ein anderer Mann. Ich weiß nicht, warum er kam. Ich glaube, er wollte nur mit jemandem reden.« Er nickt dabei vor sich hin. »Er trug ein neues Hemd und eine Krawatte. Und er war beim Friseur.«
    Bei dem Bild muss sie unwillkürlich lächeln.
    In dem entstandenen Schweigen streckt sich Ruaridh auf der Treppe, die Hände über dem Kopf verschränkt. »Da hast du etwas Gutes getan.«
    »Das will ich hoffen«, erwidert sie. »Wäre nett zu denken, dass jemand ein glückliches Ende gefunden hat.«
    Ein alter Mann geht mit seinem Hund vorbei, seine Nasenspitze hat die Farbe roter Trauben, und alle drei grüßen sich murmelnd. Als sie aufblickt, schaut Ruaridh auf seine Füße. Sie betrachtet ihn und fragt sich, ob sie ihn zum letzten Mal sieht. Tut mir leid, entschuldigt sie sich in Gedanken bei ihm.
    »Ich würde dich ja hereinbitten«, sagt er, »aber ich packe gerade. Hab viel zu tun.«
    Sie hebt eine Hand und versucht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie klettert von der Säule, wobei der Stoff ihrer Hose leicht an der rauen Oberfläche hängen bleibt, und wirft sich ihre Tasche über die Schulter. Sie spürt ihre Beine nicht.
    Fragendes Schweigen.
    »Und … wolltest du noch etwas? Etwas anderes als Zeitungsbotin spielen?«
    Es wird kalt. Sie schiebt die Hände in die Taschen. Er schaut sie erwartungsvoll an. Sie hat Angst, etwas zu sagen. Wenn er Nein sagt, fürchtet sie, sich wie erschlagen zu fühlen. Deshalb hat sie Tage gebraucht, um hierherzukommen. Aber was hat sie schon zu verlieren? Sie wird ihn nie wiedersehen.
    Sie holt tief Luft. »Ich wollte wissen … ob du mir wohl schreibst.«
    »Dir schreiben?«
    »Während du fort bist. Ruaridh, ich habe es vermasselt. Ich kann dich um nichts bitten, aber du fehlst mir. In echt. Ich … ich würde einfach gern glauben, dass das noch nicht alles war. Dass wir vielleicht …«, sie zappelt und reibt sich die Nase, » … schreiben.«
    »Schreiben.«
    »Einfach … so. Was du machst. Wie alles läuft. Wo du bist.« Die Wörter klingen schwach in ihren Ohren.
    Er hat die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und schaut die Straße hinunter. Er antwortet nicht. Das Schweigen ist so lang wie die Straße. »Es ist frostig«, sagt er schließlich.
    Etwas Großes, Schweres hat sich in ihre Magengrube gesetzt. Ihre Geschichte ist vorbei. Er hat ihr nichts mehr zu sagen. Er
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