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Eine ganz andere Geschichte

Eine ganz andere Geschichte

Titel: Eine ganz andere Geschichte
Autoren: Hakan Nesser
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Marianne in eine Öffnung in einer Steinmauer einbog, nach knapp einer halben Stunde Fahrzeit, überfiel ihn das angenehme Gefühl, nicht die geringste Ahnung zu haben, in was für einer Welt er sich befand. Sie stoppte neben einem Fliederbusch, und sie kletterten aus dem Auto. Eine Ecklampe erleuchtete den Giebel des weißen Steinhauses, eine durchscheinende Sommerdunkelheit hatte sich über die Rasenfläche mit ein paar knorrigen Obstbäumen und einem Dutzend Johannisbeerbüschen gesenkt, das Schweigen erschien fast wie ein Lebewesen.
    »Willkommen in Gustabo«, sagte Marianne. »Ja, so sieht es hier aus.«
    Im gleichen Moment läutete eine Kirchenglocke zweimal. Gunnar Barbarotti schaute auf seine Armbanduhr. Halb zehn. Dann drehte er den Kopf in die Richtung, in die Marianne zeigte.
    »Die Kirche, mitten im Ort. Und unser Nachbar ist der Friedhof. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
    Gunnar Barbarotti legte ihr den Arm um die Schulter.
    »Und da haben wir die Kühe.«
    Sie zeigte wieder, und er konnte sie nur wenige Meter entfernt wahrnehmen. Schwere, wiederkäuende Silhouetten auf der anderen Seite der Steinmauer.
    »Um diese Jahreszeit sind sie Tag und Nacht draußen. Der Bauer geht auf die Weide, um sie zu melken, statt sie hereinzuholen. Ja, es gibt sozusagen vier Himmelsrichtungen hier. Die Kirche liegt im Osten, und die Kühe grasen im Norden. Im Westen haben wir die gelbsten Rapsfelder der Welt, das wirst du morgen sehen, und im Süden haben wir den Wald.«
    »Wald?«, wiederholte Gunnar Barbarotti und schaute sich um. »Nennst du das Wald?«
    »Achtundsechzig Laubbäume«, erklärte Marianne. »Eichen und Buchen und Blutahorn. Einer edler als der andere und die meisten mehr als hundert Jahre alt. Nein, jetzt gehen wir aber rein. Ich hoffe, du hast gehalten, was du versprochen hast.«
    »Was denn?«
    »Dir nicht auf der Fähre jede Menge Essen reinzustopfen. Ich habe etwas im Ofen, und ich habe eine Flasche Wein geöffnet.«
    »Ich habe nicht einmal eine Geleebanane gegessen«, versicherte Gunnar Barbarotti.
    Er wachte auf und sah ein sanftes Morgendämmerungslicht durch die dünnen Gardinen hereinsickern. Diese bewegten sich leicht von einem sanften Wind, und ein satter Duft nach Sommermorgen drang durch das offene Fenster. Er drehte den Kopf und betrachtete Marianne, die auf dem Bauch liegend tief neben ihm schlief, ihr nackter Rücken lag bloß da bis zur Senke und das dichte, kastanienbraune Haar ausgebreitet wie ein kaputter Fächer auf dem Kopfkissen. Er tastete über den Nachttisch und fand seine Armbanduhr.
    Halb fünf.
    Er erinnerte sich, dass er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, nachdem sie sich geliebt hatten. Viertel nach drei.
    Also kaum die Zeit, aufzustehen und sich einem neuen Tag zu widmen.
    Aber auch kein Moment, den man ohne weiteres wegzwinkert, dachte er. Schlug die Decke zur Seite, stand vorsichtig auf und ging in die Küche. Trank ein paar Schlucke Wasser direkt aus dem Hahn.
    Dann konnte man auch gleich pinkeln gehen, wenn man schon mal auf war, kam ihm in den Sinn, und er ging hinaus auf den Hof. Blieb eine Weile stehen und wippte glücklich mit den Zehen im taufeuchten Gras. Hier stehe ich also, dachte er. Vollkommen nackt, hier und jetzt. In einer Sommernacht in Gustabo. Besser als jetzt kann es gar nicht mehr werden.
    Ein großartiges Gefühl. Fast noch großartiger, als mit der Fähre anzukommen, und er beschloss, diesen Augenblick nie wieder zu vergessen. Betrachtete eine Weile die Morgenröte über dem Friedhof, dann ging er zu dem edlen Wald und schlug sein Wasser ab. Duckte sich vor einer Fledermaus, die vorbeiflatterte. Dachte, dass es doch merkwürdig war, flogen die Fledermäuse nicht nur in der Abenddämmerung?
    Er ging weiter die Steinmauer entlang und blieb eine Weile stehen, in die andere Himmelsrichtung gewandt.
    Getreide. Das Rapsfeld.
    Er erschauerte und ging zurück ins Haus. Schaute sich in der stilsicheren Einfachheit um. Weiß gekalkt und braunes Holz, mehr nicht. Entdeckte seine Reisetasche, die neben der Küchenbank stand, immer noch ungeöffnet. Etwas Weißes lugte aus der Seitentasche hervor. Er ging um den Küchentisch herum und stellte fest, dass es sich um die drei Briefe handelte, die er von dem redseligen Briefträger in Empfang genommen hatte, als er am Vortag zu Hause abgefahren war. Er hol te sie heraus und betrachtete sie. Zwei waren nach allem zu urteilen Rechnungen, die eine von Telia, die andere von seiner Versicherungsgesellschaft. Er
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