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Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
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wirbeln Staub ins Zimmer. Wo ziehe ich bloß hin, wenn eines Tages der Wohnungsinhaber heimkehren sollte? Fest steht jedenfalls, daß ohne mein Vorhandensein die Dachwohnung längst von Dachdeckern und anderen Landsleuten ausgeräumt wäre. Fremde Möbel verheizen sich besser als eigene.
    Freitag, 8. Juni 1945
    Wieder war die Gehmaschine unterwegs. Heute wunderliches Erlebnis: Inzwischen ist probeweise ein Teilstück der S-Bahn wieder in Betrieb genommen worden. Ich sah oben auf dem Bahnsteig die roten und gelben Wagen stehen, klomm treppauf, löste für zwei von unseren alten Groschen eine Fahrkarte und stieg ein. Drinnen saßen die Leute so feierlich auf den Bänken. Sogleich rückten zwei zusammen und machten mir Platz. Es war eine Sausefahrt durch Sonne und Trümmerwüsten. All meine mühseligen, endlosen Gehminuten flogen an mir vorbei. Es tat mir ordentlich leid, daß ich schon so bald wieder aussteigen mußte. Die Fahrt war so nett, wie ein Geschenk.
    Hab heute fleißig geschafft. Zusammen mit Ilse hab ich einen Aufriß für das erste Heft der geplanten Frauenzeitschrift gemacht. Bloß die Titel unserer Blätter stehen noch nicht fest; wir knobelten gemeinsam daran herum. Auf jeden Fall soll in jedem Titel das Wort »neu« vorkommen.
    Seltsam traumhafter Tag, ich sah Menschen und Dinge wie durch Schleier. Heimweg auf wunden Füßen, bin schlapp vor Hunger. Bei Ilse gibt es jetzt nur noch einen Teller Erbsensuppe, für jeden zwei Suppenkellen voll, um den Vorrat zu strecken. Mir war, als ob alle Vorübergehenden aus hohlen Hungeraugen schauten. Morgen will ich wieder Brennesseln suchen. Ich peilte unterwegs schon jeden Flecken Grün darauf an.
    Allerorten spürt man die Angst ums Brot, um Leben, Arbeit, Lohn, um den kommenden Tag. Bittere, bittere Niederlage.
    Samstag, 9. Juni 1945
    Wieder ein Ruhetag für mich. Wir sind übereingekommen, daß ich, solange ich nicht mehr zu essen habe, nur jeden zweiten Tag den mühsamen 20-Kilometer-Marsch antreten soll.
    In dem Geschäft, wo ich eingetragen bin, bekam ich auf Marken Grütze und Zucker; wieder zwei oder drei Mahlzeiten gesichert. Dazu hab ich mit meinen vornehm behandschuhten Händen einen ganzen Berg Brennesseltriebe gezupft, hab auch Melde und Löwenzahnblätter gesammelt.
    Am Nachmittag war ich zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten wieder beim Friseur. Hab mir ein Pfund Schmutz aus dem Haar waschen und Wasserwellen legen lassen. Der Friseur ist irgendwoher aufgetaucht, hat sich in den ziemlich durchgewühlten Laden eines verschollenen Kollegen gesetzt, den sie noch in letzter Minute zum Volkssturm geholt haben und dessen Familie nach Thüringen evakuiert sein soll. Ein Spiegel ist noch heil, eine verbeulte Haube noch halbwegs brauchbar. Völlig friedensmäßig war des Friseurs Redensweise: »Jawohl, gnä' Frau, gewiß doch, gern, gnä' Frau...« Ich kam mir ganz fremd vor bei diesen beflissenen Redensarten. Die »gnä' Frau« ist gewissermaßen eine Binnenwährung, eine Münze, die nur unter uns gilt. Vor der Welt sind wir Trümmerweiber und Dreck.
    Sonntag, 10. Juni 1945
    Das Radio meldet, daß die Kriegsverwaltung der Russen doch nach Berlin kommt und daß Rußland künftig bis an Bayern, Hannover und Holstein heranreicht; daß die Engländer Rhein und Ruhr bekommen und die Amerikaner Bayern. Verworrene Welt, zerschnittenes Land. Seit einem Monat haben wir nun Frieden.
    Besinnlicher Vormittag bei Sonne und Musik. Ich las in Rilke, Goethe, Hauptmann. Tröstlich, daß auch die zu uns gehören und von unserer Art sind.
    Um halb zwei Uhr mittags brach ich auf. Schwüler Marsch durch das noch immer leere, stumme Berlin nach Charlottenburg, wo wir wieder beisammensaßen und berieten. Ein neuer Mann, ein Druckfachmann, ist zu uns gestoßen. Nach seiner Meinung hat es gar keinen Sinn, die Papierbeschaffung an den Anfang zu stellen. Wer Papier hat, hält es fest, hält es sogar versteckt, da er Beschlagnahme fürchtet. Und ist er willens, davon abzugeben, dann fehlt uns ein Fahrzeug, fehlen Räume zur Unterbringung, bis der Druck beginnen kann. Denn der Wagenpark unseres Unternehmens beläuft sich zur Zeit nur auf zwei Fahrräder – was mehr ist, als die meisten Firmen jetzt haben. Der Druckfachmann meint, daß es vor allem darauf ankomme, den Behörden eine Lizenz, eine amtliche Papierzuteilung zu entreißen. Der Ingenieur hat bereits die Runde bei allen möglichen deutschen und russischen Ämtern gemacht, er berichtete einigermaßen niedergedrückt von all
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