Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau in Berlin

Eine Frau in Berlin

Titel: Eine Frau in Berlin
Autoren: Anonyma
Vom Netzwerk:
waren die Alten die Besitzenden, die über die Habe Herrschenden. In der besitzlosen Masse, zu der wir heute fast alle zählen, gilt das Alter nichts. Es ist nicht ehrwürdig, sondern bemitleidenswert. Doch scheint gerade diese bedrohte Lage die Alten anzustacheln und ihren Lebenstrieb zu schüren. Der desertierte Soldat bei uns im Haus erzählte der Witwe, daß er jeden Brocken Eßbares vor seiner greisen Schwiegermutter wegschließen muß. Sie stiehlt, was sie greifen kann, und verzehrt es heimlich; sie ißt der Tochter und dem Schwiegersohn bedenkenlos die Rationen weg. Sagt man ihr was, so zetert sie, man wolle sie wohl verhungern lassen, sie quasi umbringen, damit man ihre Wohnung erbe... So werden die würdigen Matronen zu Tieren, die sich gierig an ihren Lebensrest krallen.
    Dienstag, 5. Juni 1945
    Schlecht geschlafen, Zahnschmerzen. Trotzdem bin ich früh aufgestanden und nach Charlottenburg marschiert. Heute ist wieder überall geflaggt. Zu Tausenden sollen die Alliierten auf dem Flughafen gelandet sein,
    Engländer, Amerikaner, Franzosen. Ihnen zu Ehren flattern die putzigen, so ungleichen Fähnchen, Produkte des Wochenend-Fleißes der deutschen Frauen. Unterdes rollen die russischen Lastwagen weiter mit unseren Maschinen von dannen.
    Ich trabe und trabe, bleibe die Gehmaschine. Immerhin marschiere ich rund 20 Kilometer pro Tag, bei knappster Nahrung. Die Arbeit macht Spaß. Jeden Tag heckt der Ungar etwas Neues aus. Irgendwo hat er gehört, daß vorerst nur für Schulbücher Papier zugeteilt werden soll. Also fügt er in sein Verlagsprogramm Schulbücher ein. Er tippt auf dringenden Bedarf für zeitgemäße deutsche Lesefibeln und russische Grammatiken, trug mir auf, mir in der Richtung den Kopf zu zerbrechen. Zwischendurch spendierte Ilse eine Tasse Bohnenkaffee. Ab 18 Uhr nahm ich den Heimweg unter die Schuhsohlen (die bereits papierdünn geworden sind). Unterwegs begegnete mir der erste wieder in Betrieb gesetzte deutsche Wagen, ein Bus, der alle halbe Stunde fährt; doch hoffnungslos überfüllt, nicht heranzukommen. Auch sah ich deutsche Schupos, neu in Dienst gestellt; eigentümlich schmächtige Büblein, bemüht, nicht aufzufallen.
    Kam naßgeschwitzt mit brennenden Füßen heim. Auf der Treppe fing mich die Witwe ab, mit einer Überraschung: Nikolai war da, er hat nach mir gefragt! Nikolai? Ich mußte eine ganze Zeit nachdenken, bis ich mich wieder auf ihn besann, den Oberleutnant und Banken-Inspizienten aus vergangenen Zeiten; Nikolai, der kommen wollte und nicht kam. »Um acht will er nochmals nachfragen«, sagte die Witwe. »Er wird gleich oben bei dir klingeln. Freust du dich?«
    »Je ne sais pas«, antwortete ich, in der Erinnerung an Nikolais französische Sprachkenntnisse. Ich wußte wirklich nicht, ob ich mich freuen sollte. Nachdem Nikolai sich bereits zweimal in Luft aufgelöst hatte, erschien mir sein leibhaftiges Kommen ganz unglaubhaft. Auch lag die Zeit zu weit zurück. Ich mochte nicht daran erinnert werden. Und ich war so müde.
    Kaum hatte ich mich flüchtig gewaschen und mich, wie ich es nach diesem Gewaltmarsch stets tue, lang hingehauen, um eine Stunde zu schlafen, da ging die Klingel. Nikolai, wahrhaftig. Im Halbdunkel des Flurs tauschten wir französische Phrasen. Als ich ihn ins Zimmer bat und er mich im Hellen sah, erschrak er sichtlich: »Was ist denn? Wie sehen Sie aus?« Er fand mich abgemagert und elend, wollte wissen, wie das in so kurzer Zeit möglich sei. Tja, viel Arbeit und endlose Märsche bei viel Hunger und wenig Trockenbrot – dabei fällt man vom Fleische. Sonderbar, daß mir selber die Veränderung gar nicht so aufgefallen ist. Man hat keine Gelegenheit, sich zu wiegen; und in den Spiegel schaut man auch nur flüchtig. Aber daß es so arg sein soll?
    Wir saßen einander am Rauchtisch gegenüber. Ich konnte bei meiner Müdigkeit das Gähnen nicht unterdrücken, fand keine Vokabeln mehr in meinem Kopf, war so dösig, daß ich gar nicht begriff, wovon Nikolai redete. Zwischendurch rappelte ich mich zusammen, gab mir Befehl, nett zu ihm zu sein; er selber war sehr freundlich, aber fremd. Offenbar hat er mit einem anderen Empfang gerechnet. Oder das bleiche Gespenst, in das ich mich verwandelt habe, gefiel ihm einfach nicht mehr. Schließlich kapierte ich, daß Nikolai auch diesmal nur gekommen war, um Abschied zu nehmen, daß er bereits außerhalb von Berlin steckt und heute nur auf einen Tag in Berlin zu tun hatte, zum letzten Mal, wie er sagte. Also brauchte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher