Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
sie ihm sagen sollte.
    Erzähl einfach.
    Aber er kennt sie doch gar nicht, dachte sie.
    Wenn du erzählst, dann schon, sagte er.
    Sie schluckte und sagte schnell: In der ersten Klasse, am ersten Tag, als ich ins Klassenzimmer kam, war sie das erste Mädchen, das ich sah.
    Warum?
    Na gut, kicherte Ora, sie war auch rothaarig.
    Ah, du auch?
    Sie lachte laut. Ihr Lachen war wieder gesund und schallend: Sie staunte, dass man so lange mit ihr zusammensein und mit ihr reden konnte, drei Nächte lang, ohne zu merken, dass sie rothaarig war: Aber ich habe keine Sommersprossen, erklärte sie sofort, Ada hatte welche, auf dem ganzen Gesicht, und auch auf Armen und Beinen. Interessiert dich das überhaupt?
    Auch auf den Beinen?
    Überall.
    Warum redest du nicht weiter?
    Ich weiß nicht, es gibt nicht viel zu erzählen.
    Erzähl, was es gibt.
    Das ist ein bisschen … Sie zögerte einen Augenblick, wusste nicht, ob sie ihm die Geheimnisse des Ordens bereits anvertrauen konnte. Du musst wissen, ein rothaariges Kind schaut immer zuerst, ob noch Rothaarige in der Nähe sind.
    Um sich mit ihnen anzufreunden? Nein, wohl eher das Gegenteil, nicht wahr?
    Sie lächelte anerkennend im Dunkel. Er war klüger, als sie gedacht hatte. Genau, sagte sie, und auch, um sich nicht neben sie zu stellen und auch sonst nichts.
    Avram sagte: Das ist so, wie wenn ich …
    Was?
    Immer gleich die Zwerge suche.
    Wieso?
    So ist das eben.
    Ah … Du bist klein?
    Lass uns wetten, dass ich dir nicht bis zum Knöchel reiche.
    Ha!
    Im Ernst. Du weiß ja nicht, was für Angebote ich vom Zirkus kriege.
    Von wem? Ach komm, es reicht.
    Ich seh schon, noch eine Welle von Entlassungen bei meinen Witzeschreibern.
    Sag mal.
    Was?
    Aber sag die Wahrheit.
    Also?
    Bist du auch gestern einfach so zu mir gekommen?
    Was heißt einfach so?
    Und vorgestern, als du mich geweckt hast. Hab ich da wirklich gesungen?
    Ja. Ich schwöre, vorgestern war das wirklich so.
    Du bist schon komisch.
    Danke, lachte Avram, ich geb mir Mühe.
    Und, sag …
    Was?
    Warum bist du gestern und heute gekommen?
    Weiß ich nicht. Ich bin einfach gekommen.
    Das ist keine Antwort.
    Er räusperte sich: »Ich wollte dich aufwecken, bevor du anfängst, im Schlaf zu singen, log Avram.«
    Was hast du da gesagt?
    »Ich wollte dich aufwecken, bevor du im Schlaf nochmal anfängst zu singen, log der heimtückische Avram.«
    Ah, du …
    Ja.
    Du sagst mir auch, was du …
    Genau.
    Schweigen. Ein heimliches Lächeln. Schnell drehende Räder, hier wie dort.
    Und du heißt Avram?
    Was soll ich machen. Das war der preiswerteste Name, mehr konnten meine Eltern sich nicht leisten.
    Das ist so, wie wenn ich zum Beispiel sagen würde: »Er redet mit mir, als wär er ein Schauspieler im Theater, dachte Ora«?
    »Du hast das Prinzip kapiert, lobte er, und zu sich sagte er, oh, du meine Seele, ich glaube, jetzt haben wir sie endlich gefunden …«
    »Dann halt mal kurz den Mund, sagte ihm das Genie Ora und versank in Gedanken, die tiefer waren als das Meer.«
    »Interessant, worüber sie sich wohl Gedanken macht, die tiefer sind als das Meer, sann Avram im Stillen nach.«
    »Sie denkt, dass sie ihn jetzt endlich sehen will, nur für einen Augenblick. Und worüber sinnt er nach?«
    »Dass sie besser dran täte, ihn nicht zu sehen, sagte Avram und stieß einen Angstschrei aus.«
    »Aber Ora, listig wie ein Fuchs, verriet ihm dann, dass sie außer dem Stuhl heute noch etwas vorbereitet hatte.«
    Ritsch, nochmal Ritsch, und ein Tropfen Licht geht im Zimmer auf. Ein dünner, langer weißer Arm, nach vorne ausgestreckt, hält eine Streichholzfackel. Das Licht schwappt über die Wände wie Wasser in einem Krug. Das Zimmer ist groß, viele leere, nackte Betten, zitternde Schatten, eine Wand, ein Türrahmen, und in der Mitte des Lichtkreises: Avram, ein bisschen geschrumpft angesichts der blendenden Flamme.
    Sie streicht noch ein Hölzchen an und hält es, ohne es zu merken, etwas tiefer, als achte sie darauf, ihn nicht zu beschämen. Die Flamme offenbart dicke, kräftige Jungenbeine in einem blauen Schlafanzug, auf den Hosenbeinen liegen erstaunlich kleine Hände, die sich nervös umklammern. Die Flamme klettert einen kurzen, stämmigen Körper hoch und entrollt aus dem Dunkel ein großes rundes Gesicht, das trotz der Krankheit einen beinahe peinlichen Lebenshunger, Neugierde und Mut zeigt, mit einer Knollennase, geschwollenen Lidern, darüber ein schwarz zerzauster, wilder Haarschopf.
    Am meisten staunt sie darüber, wie er ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher