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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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Ora beleidigt. Das würde uns alles kaputtmachen, seufzte er übertrieben, ichhatte schon gedacht, du wärst das perfekte Mädchen. Ich bin bei den echten Idealisten, bei den Machanot Olim , provozierte sie, und er reckte den Hals, wölbte die Lippen und stieß zu ihrem Schrecken ein herzzerreißendes Hundejaulen gen Zimmerdecke aus: Das ist ja entsetzlich, was du da sagst, ich kann nur hoffen, dass die Forschung rasch ein Heilmittel gegen dein Leiden findet. Ihr Fuß klopfte schnell. Es war ihr, als tanze er ungeheuer schnell um sie herum, als komme er jeden Moment aus einer anderen unerwarteten Richtung und piesackte sie.
    Mein Liebes Tagebuch, seufzte Avram mit betont russischem Akzent: Einst, um eine Mittnacht graulich, da ich trübe sann und traulich, traf ich mit gebrochnem Herzen endlich ein Mädchen, das tatsächlich überzeugt war, mich von irgendwoher zu kennen – Ora schnaubte verächtlich, doch Avram machte einfach weiter –, da erforschten wir alle Möglichkeiten, und nachdem wir alle fürchterlichen Ideen verworfen hatten, kam ich zu dem Schluss, dass wir uns vielleicht überhaupt erst in der Zukunft kennengelernt haben.
    Ora stieß einen spitzen Schrei aus, als hätte sie sich gestochen. Was ist passiert, fragte Avram sanft, rührte an ihren Schmerz. Nichts, sagte sie, nur so. Sie starrte ihn heimlich an, versuchte, das Dunkel zu durchdringen und endlich zu sehen, wer er war. Sie schwiegen. Dieses Gespräch ging schon über ihre Kräfte. Seit sie krank geworden waren, hatten sie nicht so lange geredet, und jetzt sanken sie in einen unruhigen Dämmer, zuckten im Schlaf, einer neben dem andern. Avrams Gliedmaßen streckten sich und wurden immer länger, dünn wie Zahnstocher, sein Bauch blähte sich auf und wurde rund und schwer. Er wusste, dass er das Mädchen warnen und ihr sagen musste, wie sich seine Form veränderte und immer vogelähnlicher wurde, damit sie nicht erschrak, doch aus seinem Schnabel kam nur noch ein schwaches Zwitschern. Er war das Junge eines riesigen Vogels und lag hilflos auf dem Rücken. Irgendwie, unter übervogeligen Anstrengungen, flatterte er zurück nach Zimmer drei und landete am Bettrand seines Klassenkameraden, der schlief und zitterte, stöhnte und sich im Schlaf kratzte. Es ist so still hier, murmelte Avram, hast du gemerkt, wie still die Nacht ist? Langes Schweigen. Dann sagte der andere mit heiserer, brüchiger Stimme: Wie im Grab ist es hier, vielleicht sind wir schon tot. Avram dachte eine Weile nach. Hör mal, begann er, als wir nochlebten, haben wir, glaub ich, in derselben Klasse gelernt. Der Junge schwieg, versuchte, ein bisschen den Kopf zu heben, um Avram anzuschauen, schaffte es aber nicht. Kurz darauf brummte er, als ich noch lebte, hab ich grundsätzlich in keiner Klasse irgendwas gelernt. Stimmt, sagte Avram mit einem feinen, anerkennenden Lächeln, als ich noch gelebt hab, war da wirklich einer in meiner Klasse, der grundsätzlich nichts gelernt hat, ein Ilan, ein atomarer Snob, der hat mit keinem geredet.
    Was hätte der mit euch auch zu reden gehabt? Hosenscheißer, alles Weicheier, ihr habt ja keine Ahnung vom Leben.
    Warum? fragte Avram konzentriert. Was weißt du, was wir nicht wissen?
    Ilan stieß einen schnarchenden Seufzer aus, kurz und bitter, und Avram bekam es irgendwie mit der Angst zu tun.
    Sie schwiegen, sanken in einen albtraumreichen Schlaf. Irgendwo dort, in Zimmer sieben, lag Ora in ihrem Bett und versuchte zu verstehen, ob ihr diese Dinge wirklich widerfuhren. Sie erinnerte sich, dass sie vor kurzem, es war erst ein paar Tage her, auf dem Rückweg vom Training auf dem Platz des Technions ohnmächtig geworden war. Der Arzt im Rambam-Krankenhaus hatte sie gleich gefragt, ob sie zusammen mit dem Rest der Klasse eines der während des Wartens auf den Krieg errichteten Militärcamps besucht und dort zufällig etwas gegessen oder eine der Feldtoiletten benutzt habe. Mit einem Schlag hatte man sie aus ihrem Zuhause gerissen, sie dann in eine fremde Stadt gebracht, und hier hielt man sie in völliger Isolation, die die Ärzte ihr aufzwangen, und mehr noch Schwester Vicki, eine kurze, breite, halslose Frau. Ungezügelt regierte sie über die Isolierstation und berichtete den von ihr kommandierten halb bewusstlosen Kranken lauthals von den neuesten Entwicklungen, von den arroganten Erklärungen Nassers, möge sein Name ausgelöscht werden, von den bösen Plänen des Zwergs Hussi und von Wellen der Hilfsbereitschaft und Einigkeit, die, wie sie
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