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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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Sirenen und Kanonen, ich hab auch Hubschrauber landen hören, es gibt bestimmt schon eine Million Verletzte und Tote. Aber was passiert da, im Krieg? fragte sie, und er sagte, keine Ahnung, hier kann man mit keinem reden, sie haben keine Zeit für uns, und sie fragte, und Schwester Vicki, wo ist die? Er zögerte, vielleicht ist sie gegangen, als der Krieg anfing, die will sich bestimmt um echte Verwundete kümmern, und sie fragte, wer kümmert sich dann um uns? Und er, jetzt ist nur noch diese eine da, die kleine dünne Araberin, die dauernd weint, hast du sie gehört? Sie fragte erstaunt, ein Mensch weint da? Ich dachte, da schreit ein Tier, bist du sicher? Er sagte, das ist ein Mensch, der weint, hundertprozentig, und sie sagte, aber wie kommt es, dass ich sie noch nicht gesehen habe? Und er, die ist so eine, die kommt und geht, sie nimmt die Proben und stellt die Medikamente und das Essen aufs Tablett, und jetzt ist nur noch sie hier, Tag und Nacht.
    Er sog seine Wangen ein und dachte nach. Witzig, dass sie uns hier bloß eine Araberin hingesetzt haben, findest du nicht? An die Verwundeten lassen sie bestimmt keine Araberin ran. Doch Ora konnte sich nicht beruhigen, warum weint sie? Was hat sie? Und er, woher soll ich das wissen? Und sie, du hast sie nicht gefragt? Und er, sie kommt immer, wenn ich schlafe; seit Krieg ist, hab ich sie nicht gesehn. Ora richtete sich auf, ihr Körper machte sich steif, und in eisiger Ruhe rutschte es ihr heraus: Die haben Tel Aviv erobert, ich sag’s dir, Nasser und Hussein waren schon auf der Dizengoff Kaffee trinken. Er erschrak, woher hatte sie denn das? Und sie, das hab ich gestern Nacht gehört, oder heute, ich bin mir fast sicher, vielleicht kam es im Radio, ich hab gehört, dass sie Beer Schewa, Aschkelon und Tel Aviv erobert haben. Und er, nein nein, das kann nicht sein, vielleicht ist das vom Fieber, das kommt bestimmt vom Fieber, wie soll das denn gehn? Du bist durchgeknallt, es kann nicht sein, dass die siegen. Doch doch, und ob das sein kann, sagte sie leise und dachte, was weißt du schon, was sein kann und was nicht.

    Sie erwachte aus einem unruhigen Schlaf, und ihr Blick suchte den Jungen, bist du noch da? Wie bitte, ja. Und sie beklagte sich, neun Mädchen waren mit mir im Zimmer, und jetzt bin ich allein, das nervt doch, oder? Dem Jungen gefiel es, dass er auch nach drei gemeinsamen Nächten ihren Namen nicht kannte und sie nicht seinen, er mochte solche kleinen Geheimnisse. In den Hörspielen, die er schrieb und mit einem kleinen Tonbandgerät zu Hause aufnahm, wobei er selbst alle Rollen spielte, Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen, Geister und Engel, auch Wildgänse, sprechende Teekessel und wer weiß, was sonst noch alles, die Liste war endlos, in seinen Hörspielen hatte er schon solche oberschlauen Spielchen getrieben, allerlei Geschöpfe, die auftauchten und wieder abtauchten, Gestalten, die aus der Phantasie anderer Gestalten geboren wurden, und in der Zwischenzeit amüsierte er sich beim Raten: Rina? Jael? Vielleicht Liora? Liora würde zu ihr passen, dachte er, so wie ihr Lächeln im Dunkel leuchtet.
    Bei ihm in Zimmer drei sei es genauso, erzählte er, alle seien entlassen worden, auch die Soldaten, einige hätten kaum laufen können, aber man hätte sie trotzdem zu ihren Einheiten zurückgeschickt; jetzt sei außer ihm bloß noch einer übrig, kein Soldat, sondern ausgerechnet einer aus seiner Klasse, den man am Tag zuvor mit einundvierzig zwei eingeliefert habe. Bei dem bekomme man das Fieber nicht runter, er träume den ganzen Tag und erzähle sich selber Geschichten aus Tausendundeiner Nacht … Warte, unterbrach Ora, warst du nicht mal auf einem Training vom Wingate Institut? Bist du nicht zufällig beim Volleyball? Avram stieß einen kurzen angewiderten Schrei aus. Ora fragte, was das war. Ein kurzer angewiderter Schrei, sagte Avram. Ora unterdrückte ihr Lächeln und machte ein ernstes Gesicht: Gibt es im Sport denn nichts, wo du gut drin bist? Avram grübelte einen Moment, vielleicht als Boxsack, schlug er vor. In welcher Jugendbewegung bist du dann? Ora war wirklich sauer, warte, lass mich raten, du klingst mir zu verwöhnt, nicht wie einer von den Sozis, sagte sie kichernd, du bist bestimmt bei den freien Pfadfindern. Ich bin in gar keinem Verein, sagte er lächelnd. In gar keinem? Ora schreckte zurück, was bist du dann? Jetzt sag bitte nicht, dass du in so einem Verein drin bist, sagte Avram und lächelte weiter. Warum nicht, fragte
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