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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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Schönheitsfehler, bei ihr war das schon ein schwerwiegender Defekt, eine Behinderung, die sich in Zukunft noch entwickeln und zu Komplikationen führen konnte, und sie spürte auch, dass diese Behinderung mit weiteren Eigenschaften zusammenhing, die bei ihr in den letzten Jahren ebenfalls abgestumpft waren. Die Intuition zum Beispiel. Wie konnte es überhaupt passieren, dass so etwas verschwand, und dann noch so schnell? Oder die Fähigkeit, im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Früher hat sie die gehabt, und nun war sie weg. Oder einfach der Scharfsinn. Früher hatte sie Pfeffer, dass es nur so knallte. Oder der Liebessinn, dachte sie plötzlich, vielleicht hatte der auch mit ihrer Verschlechterung zu tun; jemanden wirklich zu lieben, vor Liebe zu brennen, wie die andern Mädchen es nannten, wie im Film. Und sofort spürte sie einen Stich wegen Avner, Avner Feinblatt, das war ihr Freund aus dem Militärinternat, der schon Soldat war. Auf der Treppe zwischen Pawsner- und Josefstraße hatte er ihr gesagt, sie sei seine Seelenfreundin, aber auch da hatte er sie nicht angefasst, nicht ein einziges Mal hatte er sie mit der Hand oder auch nur mit einem Finger berührt, und vielleicht hing auch dieses Nichtberühren damit zusammen. Verborgen im Herzen spürte sie, dass alles irgendwie zusammenhing, aber ihr würden sich die Dinge erst nach und nach offenbaren, jedes Mal würde ihr noch ein kleiner Ausschnitt von dem klar werden, was sie erwartete, und möglicherweise sahen es Leute, die sie von außen beobachteten, bereits eher als sie, und im Grunde könnte sie es selbst längst wissen, nach all den Anzeichen, die so zusammenkamen.
    Für einen Augenblick sah sie sich im Alter von fünfzig, hochgewachsen, schlank und welk, eine Blume ohne Duft, läuft mit großen, schnellen Schritten, auf dem gesenkten Kopf ein Sonnenhut, der das Gesicht verdeckt, und der Junge mit dem netten Lachen tastete sichseinen Weg zu ihr, kam näher, entfernte sich wieder – als mache er das mit Absicht, dachte sie staunend, als sei das so ein Spiel von ihm –, und er kicherte, lachte über seine eigene Unbeholfenheit und trieb in kreisenden Bewegungen durchs Zimmer, ab und zu bat er sie, etwas zu sagen, um ihm die Richtung zu geben: Wie ein Leuchtturm, bloß mit Stimme, erklärte er. So ein Oberschlauer, dachte sie, bestimmt ist er auch ein Außenseiter. Bis er endlich ihr Bett erreichte, tastend den Stuhl fand, den sie ihm hingestellt hatte, darauf niedersank und wie ein alter Mann schnaufte. Sie roch den Schweiß seiner Krankheit, pellte sich eine ihrer Decken ab und gab sie ihm, und er hüllte sich darin ein und schwieg. Beide waren erschöpft, kauerten sich zusammen, zitterten und seufzten, ganz auf sich selbst konzentriert.
    Trotzdem, sagte sie später, in ihre Decke gewickelt, deine Stimme kenn ich, woher kommst du? Aus Jerusalem, sagte er. Ich aus Haifa, sagte sie mit einem gewissen Nachdruck, mich haben sie im Krankenwagen hergebracht, aus dem Rambam-Krankenhaus, wegen Komplikationen. Hab ich auch, lachte er, seit ich lebe, hab ich Komplikationen. Sie schwiegen, er kratzte sich heftig, den Bauch und die Brust, und fluchte, und sie fluchte ihm hinterher, zum Verrücktwerden, was? Auch sie kratzte sich mit allen zehn Fingern: Manchmal könnt ich mir die Haut abziehen, damit das aufhört. Jedes Mal, wenn sie zu reden anfing, hörte er, wie ihre Lippen sich mit dem Geräusch von weichem Gummi voneinander lösten, und spürte ein Pulsieren in Fingern und Zehen.
    Ora sagte: Der Fahrer des Krankenwagens hat gesagt, in so einer Zeit benötigte man die Krankenwagen für Wichtigeres. Sag mal, fragte er, hast du auch gemerkt, dass hier alle sauer auf uns sind, so als täten wir das mit Absicht? Sie sagte, weil wir als Letzte von der Epidemie übriggeblieben sind. Er sagte, wem es bloß ein bisschen besserging, den haben sie gleich entlassen, vor allem die Soldaten, die haben sie postwendend wieder zur Armee geschickt, dass sie rechtzeitig zum Krieg zurück sind. Sie fragte, dann ist wirklich Krieg? Und er: Wo lebst du denn, schon seit mindestens zwei Tagen. Sie fragte überrascht, wann hat er angefangen? Vorgestern, glaub ich, ich hab dir das schon gestern oder vorgestern gesagt, ich weiß nicht genau, mir kommen die Tage durcheinander. Sie dachte nach, überrascht, stimmt, du hast sowas gesagt … Spuren merkwürdiger Albträume stiegen in ihr auf. Er murmelte, wie kann es sein, dass du das nicht gehört hast? Die ganze Zeit hört man
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