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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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will, dass du mir vesprichst …
    Was du willst.
    Dass du dich an alles erinnern wirst …
    Ja, das weißt du doch.
    Von Anfang an, von da an, wo wir uns kennengelernt haben, als Kinder, und an den Krieg damals, als wir uns auf der Isolierstation getroffen haben, und an den zweiten Krieg, und was dir da passiert ist, und an Ilan und mich, an alles, was war, ja?
    Ja. Ja.
    Und an Adam und Ofer, versprich mir das, schau mir in die Augen. Sie hält sein Gesicht mit beiden Händen: Du wirst dich erinnern, ja?
    An alles.
    Und wenn Ofer, flüstert sie, und ihr Blick verschwimmt vor seinen Augen, eine neue Falte kerbt sich waagerecht, tief und schwarz plötzlich zwischen ihren Augen ein: Wenn er …
    Avram packt sie an den Schultern, schüttelt sie wie von Sinnen: Nein, das darfst du noch nichtmal denken! Sie redet weiter, doch er hört nichts, er drückt sie an sich, küsst ihr Gesicht, aber sie gibt sich seinen Küssen nicht hin. Sie überlässt ihm nur die Hülle ihres Gesichts.
    Du wirst dich erinnern, murmelt sie, während er sie schüttelt, an Ofer wirst du dich erinnern, an sein Leben. Sein ganzes Leben, ja?

    Noch lange Minuten saßen sie im Versteck des winzigen Kraters. Klammerten sich aneinander wie Flüchtlinge eines Sturms. Langsam kehrten die Geräusche zurück, das Summen einer Biene, das dünne Zwitschern eines Vogels, Geräusche von Bauarbeitern, die irgendwo im Tal ein Haus bauten.
    Dann löste sich Ora von seinem Körper und legte sich auf die Seite. Sie zog die Knie an den Bauch und legte ihre Wange in ihre Hand. Ihre Augen waren weit offen, aber sie sah nichts. Avram saß bei ihr, seine Finger schwebten über ihr Gesicht, berührten sie leicht. Ein leiser Wind wehte. Gerüche von Zaatar und dornigem Becherstrauch und ein warmer Hauch von Heckenkirsche erfüllten die Luft. Unter ihrem Körper der kalte Stein, der ganze Fels, so gewaltig, kompakt und unendlich. Sie dachte, wie dünn ist die Kruste der Erde.

    Dezember 2007

Im Mai 2003 begann ich, dieses Buch zu schreiben, ein halbes Jahr bevor mein erstgeborener Sohn, Jonathan, seinen Militärdienst beendete und ein halbes Jahr bevor sein jüngerer Bruder Uri einberufen wurde. Beide dienten beim Panzerkorps.
    Uri kannte die Handlung des Buchs und die Personen gut. Wenn wir telefonierten, und vor allem, wenn er frei hatte und für ein langes Wochenende nach Hause kam, fragte er, was inzwischen in der Geschichte und im Leben ihrer Helden passiert war (»Was hast du ihnen diese Woche wieder angetan?«, sagte er). Die meiste Zeit seines Wehrdienstes verbrachte er in den besetzten Gebieten, bei Patrouillen, auf Beobachtungsposten, in Hinterhalten und an Checkpoints, und manchmal erzählte er mir, was er da erlebte.
    Ich hatte damals das Gefühl – oder genauer gesagt, die Hoffnung –, dass das Buch, das ich schreibe, ihn schützen wird.
    Am 12 . August 2006 , in den letzten Stunden des zweiten Libanonkrieges, wurde Uri im Südlibanon getötet. Bei dem Versuch, die Besatzung eines anderen getroffenen Panzers zu retten, wurde sein Panzer von einer Rakete getroffen. Mit Uri kam die gesamte Besatzung des Panzers ums Leben: Benaja Rein, Adam Goren und Alex Bonimovitsch.
    Nach der Trauerwoche kehrte ich zu dem Roman zurück. Der größte Teil war bereits geschrieben. Mehr als alles andere hat sich der Resonanzraum der Wirklichkeit verändert, in dem die letzte Version entstand.

    David Grossman

Dank

    Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung ihrer Arbeit und Rachel Bar-Haim (Jerusalem), Renate Birkenhauer (Straelen), Patricia Reimann (München), Heinrich Bauermeister (Hamburg), Irmela Brender (Sindelfingen) und Gershon Molad (Tel Aviv) für ihre hilfreiche kritische Begleitung.
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