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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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bist.
    Sie bewegten sich langsam, aneinander geklammert wie in einem großen Sturm.
    Denk an ihn, denk an ihn! hatte sie geschrien.

    Hör zu, sagt sie wütend einige Stunden danach, auf dem Weg, der von Jagur auf den Carmel hochführt: Ofer hat mir gestern eine Nachricht hinterlassen: »Ich bin okay, die Bösen weniger.«
    Hat er nicht gefragt, wo du bist, wohin du verschwunden bist, was mit dir los ist?
    Doch, natürlich, immer wieder. Von uns allen macht er sich die meisten Sorgen; er muss auch immer Bescheid wissen – sie hat keine Lust, Avram jetzt irgendwas zu erzählen, aber sie spuckt es aus, damit er auch das weiß, damit er sich erinnern wird –, Ofer hat manchmal so einen Drang, uns alle zusammenzuhalten, dass ihm ja keiner für zu lange Zeit verschwindet …
    Sie bricht ab, erinnert sich, wie Ofer als Kind jedes Mal erschrak, wenn auch nur der kleinste Streit zwischen ihr und Ilan ausbrach, wie er dann sofort um sie herumrannte, sie aufeinander zuschob und zwang, sich nah zu sein. Wie war es bloß gekommen, dass die Familie ausgerechnet seinetwegen auseinanderbrach? Wieder rennt sie los, reckt ihre Stirn in die Luft, und Avram denkt sich, vielleicht hat auch Ilan ihr eine Nachricht hinterlassen, oder Adam hat ihr etwas auf Band gesprochen, was sie verletzt hat.
    Die Hündin reibt sich an ihm, als wolle sie ihn stärken oder als suche sie Schutz vor Oras Wut; ihr Schwanz hängt schlaff, sie schaut verlegen.
    So hat er gesagt? »Ich bin okay, aber die Bösen …«
    Die Bösen weniger.
    Avram wiederholt die Worte, bewegt die Lippen lautlos, schmeckt den jugendlichen Hochmut und denkt – doch Ora spricht schon schimpfend aus, was er denkt: »Bei uns in Pruschkov hat man nicht so geredet.«
    Avram hebt die Hand, gegen dich kommt man einfach nicht an, alles kennst du, er schmeichelt sich bei ihr ein, doch sie reckt unversöhnlich den Kopf und marschiert weiter. Als Arabisch-Übersetzer in der Horchstation Babel hatte er alle Vorkommnisse seiner Schicht im Diensttagebuch unter dem Titel Unser Städtchen Pruschkov regelmäßig im zittrigen, verärgerten und misstrauischen Tonfall von Zeschka, Chomek und Fischl-Parech kommentiert. So schmückte er etwa die Verlegung einer Flugstaffel von MIG 21 vom ägyptischen Luftwaffenstützpunkt in Sakasik nach Luxor, das Startverbot für eine Topolev wegen Problemen mit der Steuerung oder die Lieferung von Essensrationen an eine Kommandoeinheit mit den bitteren, defätistischen, kleinkrämerischenBemerkungen der drei greisen Pruschkover aus, die er erfunden hatte und deren Charaktere er ständig weiterentwickelte, bis der Kommandeur der Basis dahinterkam und ihn zu einer Woche Wacheschieben am Flaggenmast auf dem Appellplatz verurteilte, um seine vaterländische Gesinnung zu stärken.
    Schnell benutzt er diese süße Erinnerung, um ihr Herz für ihn zu erweichen: Sag mal …
    Was denn? Er hört Tränen in ihrer Stimme. Sie schaut ihn noch nichtmal an. Zittern ihre Schultern oder sieht es nur so aus?
    Gab es sonst noch Nachrichten?
    Nur unwichtige.
    Auch von Ilan?
    Ja, deinem Freund ist es auch eingefallen, mal anzurufen. Endlich hat er irgendwo erfahren, was hier los ist, und plötzlich ist er furchtbar besorgt über die Lage im Land und auch darüber, dass ich verschwunden bin.
    Woher weiß er denn, dass du …
    Ofer hat es ihm gesagt.
    Avram wartet. Er spürt, da ist noch etwas.
    Er kommt mit Adam zurück, aber das dauert noch ein paar Tage, er weiß nicht, wann sie einen Flug kriegen. Sie sind gerade in Bolivien, in irgendeiner Salzwüste, sagt sie und zieht wütend die Nase hoch, da ist genug Salz für alle meine Wunden.
    Und Adam?
    Was ist mit Adam?
    Hat er dir auch was aufs Band gesprochen?
    Sie stockt und staunt: Unglaublich …
    Ora?
    Denn erst jetzt, erst wo er sie fragt, fällt ihr ein, dass Ilan ihr auch Grüße von Adam ausgerichtet hatte; sie war so mit sich selbst beschäftigt, mit dem, was sie da getan hat, dass sie es fast vergessen hat. Er hat ausdrücklich gesagt: und Grüße von Adam. Und das hat sie vergessen. Adam hat schon recht, sie ist einfach keine richtige Mutter.
    Ora, was ist los?
    Ist schon gut. Wieder rennt sie beinah. Bei mir gab es sonst keine wichtigen Nachrichten.
    Bei dir?
    Lass mich in Ruh, okay? Was soll dieses Verhör? Lass mich einfach in Ruh!
    Ich lass dich in Ruh, murmelt er. In seinem Magen meldet sich ein ungutes Gefühl.
    Ein Mückenschwarm begleitet sie, sie müssen durch die Nase atmen und eine ganze Weile schweigen. Avram
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