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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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erzählt?
    Keiner hat mir irgendwas erzählt.
    Sie rennt geradezu gegen den Abhang an. Steine spritzen unter ihren Absätzen weg. Avram gibt sich geschlagen, bleibt stehen, wischt sich den Schweiß ab. Im selben Moment, ohne ihn anzuschauen, hält auch Ora an, bleibt wie ein schiefes Fragezeichen auf einer Felsstufe über ihm stehen. Hinter den Eichen und den milchigen Morgennebeln sieht man das Tal Sebulun und die erwachende Jagur-Kreuzung. Aus den beiden Schornsteinen in der Bucht von Haifa kringelt sich weißer Rauch und vermischt sich mit Nebelschwaden. Avram möchte ihr etwas Gutes tun und die plötzlich in ihr aufsteigende Wut lindern; wenn er nur wüsste, was. Auf den Straßen, die auf die Kreuzung zuströmen, schießen die Autos vorbei. In der Ferne schlängelt sich das rhythmisch aufblitzende Metall einer Eisenbahn. Aber hier auf dem Berg ist es still, nur selten hört man die Hupe eines Lasters oder die hartnäckig jaulende Sirene eines Krankenwagens.
    So lebe ich, sagt er schließlich leise, vielleicht ganz ehrlich, oder er unternimmt einen kleinen Bestechungsversuch.
    Wie – so? ihre Stimme knarzt, kratzt.
    So: Ich schaue zu.
    Dann ist es jetzt vielleicht an der Zeit, dass du mitmachst, zischt sie und setzt den Aufstieg fort.
    Was? Warte …
    Hör zu, Ofer ist okay, sagt sie scharf, und Avram wird unruhig, rennt hinter ihr her: Wirklich? Woher weißt du das?
    Ich hab von dem Minimarkt aus zu Hause angerufen und meine Nachrichten abgehört.
    Kann man das?
    Ja klar, sagt sie und murmelt vor sich hin, man kann noch viel mehr.
    Und, hat er Nachrichten hinterlassen?
    Zwölf Stück.
    Wieder drängt es sie weiter. Feine morgendliche Spinnweben legen sich auf ihr Gesicht, und sie wischt sie ärgerlich weg. Durch ihre Bewegungen hindurch ahnt man die Züge eines zornigen pubertierenden Mädchens.
    Zumindest bis gestern Abend war er okay, berichtet sie, die letzte Nachricht ist von gestern um Viertel nach elf. Avram prüft, wie hoch die Sonne steht. Beide wissen: Viertel nach elf, das ist gut, aber bereits so bedeutungslos wie die Zeitung von gestern, war doch, gleich nachdem er die Nachricht hinterlassen hatte, irgendwo dort die Sanduhr wieder umgedreht worden; das Zählen hatte von neuem begonnen, bei Null, und abermals hatte die Hoffnung keinen Vorsprung vor der Angst.
    Warte, warum hast du ihn nicht direkt angerufen, auf seinem Handy?
    Ihn? Direkt? Sie schüttelt heftig den Kopf, nein, nein, wie kommst du denn darauf.
    Sie wendet ihm den Kopf halb zu, wie eine Gazelle einem Maler, und ihr Blick fragt, verstehst du wirklich gar nichts, hast du noch nicht begriffen, dass ich das nicht darf, bis er zurück ist?
    Der Weg wird immer beschwerlicher; in Avram tobt es: Plötzlich ist Ofer so nah, seine Stimme hallt noch in Oras Ohr, sogar seine Kleider, die Avram trägt, rascheln, als umwehe ihn sein Geist.
    Aber was hat er gesagt?
    Alles Mögliche, geschäkert hat er, Ofer eben.
    Ja, lächelt Avram vor sich hin.
    Wie kannst du »ja« sagen, faucht sie giftig, was weißt du überhaupt von ihm?
    Alles, was du mir erzählt hast, sagt Avram erschrocken.
    Ha, Geschichten. Geschichten gibt es viele.
    Er verkriecht sich. Irgendetwas ist passiert, das ist völlig klar, etwas Schlimmes.
    So weit das Auge sieht, recken sich die Zepter der Salbeibüsche weiß-violett in die Höhe, rosafarbene Lichtnelken und Ranunkeln lösen die rote Zeit der Anemonen ab, die schon verblüht sind. Die Kiefernnadeln sind vom Tau getigert. Irgendwo klingeln Glöckchen: Nicht weit von ihnen zieht eine Herde zitternder Lämmer auf dünnen Beinchen vorbei, und die schwankenden trächtigen Bäuche der Schafeschleifen fast auf der Erde; Ora schaut wütend auf Avram, der die Zitzen und die dicken Bäuche anstarrt, und für einen Moment ist er verlegen, als habe man ihn bei etwas ertappt.
    Sie gehen weiter, stöhnen und ächzen den Berg hoch. Avram ist besorgt und verwirrt, nach einer ganzen Nacht voller Liebe gestern war es endlich so weit, ihre Körper glaubten ihnen wieder und vertrauten, dass sie sich nicht noch einmal für viele Jahre trennen würden. Die ganze Nacht hatten sie zusammengelegen, waren eingeschlafen, hatten geredet, waren eingedämmert, hatten miteinander geschlafen, gelacht und wieder miteinander geschlafen. Neta war zu ihm gekommen und wieder gegangen, hatte sich an ihn geschmiegt und dann zurückgezogen, mit seinem Körper hatte er Ora von ihr erzählt, und eine seltene, allumfassende Gelassenheit umfing ihn dabei; er hatte sich
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