Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
Vom Netzwerk:
bemerkt freiliegende Baumwurzeln und drum herum kleine Haufen aufgeworfener Erde: Hier waren in der Nacht Wildschweine.
    Später, am Wegrand, ein großer dunkler Felsen mit der Inschrift »Nadav«, und auf dem Stein daneben: »Wäldchen zum Gedenken an Nadav Klein. Er fiel im Zermürbungskrieg im Jordantal am 12.7.1969.« Gegenüber, zwischen Kiefernnadeln und Eukalyptusbäumen, eine Gedenktafel mit der Aufschrift: »Im Gedenken an Stabsfeldwebel Menachem Holländer, Sohn von Hanna und Mosche, Haifa, Kfar Chassidim. Gefallen im Jom-Kippur-Krieg in der Schlacht um Taos, am 9.10.1973, mit 23 Jahren.«
    Etwas weiter ein riesiges Betonrelief des Suezkanals von 1973, dort eingetragen »unsere Stellungen« – hier, ganz klein, auch Magma –, und zwischen Kaktushecken mit langen gezahnten Sprossen entdecken sie Skulpturen: eine hockende vergoldete Hirschkuh, einen ebenfalls vergoldeten Löwen und ein Denkmal mit den Namen von acht Soldaten, die im Kampf am Ufer des Suezkanals am 23.5.1970 gefallen sind, und Ora prüft aus dem Augenwinkel, wie Avram diese Hürden der Erinnerung meistert, doch der macht sich im Moment wohl nur ihretwegen Sorgen, und sie überlegt, wie soll sie es ihm sagen, wo soll sie anfangen, wie soll sie es ihm erklären?
    Sie rennt weiter. Man kann sie nicht einholen. Die Hündin bleibt ab und zu stehen, ihre Rippen heben und senken sich schnell, sie schaut Avram fragend an, er zuckt mit den Schultern: Auch er versteht sie nicht. Von der Hauptstraße des arabischen Dorfes Ussfije biegt ihr Weg vor dem Obst- und Gemüseladen Suq Josef ab und führt sie in ein schütteres Kiefernwäldchen: Überall liegen Müllhaufen, alte Reifen, Möbel, Sperrmüll, zerschlagene Fernsehgeräte, Dutzende leere Plastikkanister.
    Mit Absicht schmeißen die das alles hierhin, schimpft sie, ich sag dir, das ist deren verschrobene Rache an uns.
    Von wem?
    Na, von denen, sagt sie und macht eine ausladende Handbewegung, du weißt schon.
    Aber sie werfen sich den Dreck doch vor die eigene Tür, sagt Avram verwundert, das ist doch ihr Dorf.
    Nein, nein. Bei denen im Haus ist alles picobello, alles blitzblank, ich kenne das, aber alles, was draußen ist, gehört quasi schon dem Staat, den Juden, und dann ist es ja beinah eine gute Tat, es verdrecken zu lassen, das ist bestimmt auch ein Teil von ihrem Dschihad, sieh mal hier, komm mal her! Sie tritt mit voller Wucht gegen eine leere Flasche, verfehlt sie und fällt selbst fast hin. Avram erinnert sie, dass Ussfije ein Dorf von Drusen ist, die sich nicht dem Dschihad verschrieben haben. Außerdem haben wir beim Abstieg vom Arbel, am See Genezareth und im Nachal Amud auch genug Abfallhaufen gesehen, und die waren rein jüdischer Herkunft. Ora erwidert, nein, das ist deren Protest, kapierst du das nicht? Denn offen zu revoltieren trauen sie sich ja nicht; weißt du, ich hätte mehr Achtung vor ihnen, wenn sie sich offen gegen uns auflehnen würden.
    Es geht ihr richtig schlecht, spürt Avram, deshalb wettert sie so, er schaut sie an und sieht, wie ihr Gesicht hässlich wird.
    Hast du denn keine Wut auf sie? zischt sie, empfindest du keinen Zorn, keinen Hass, bei allem, was sie dir getan haben?
    Avram überlegt. Das Bild des Alten aus dem Kühlraum steigt in ihm auf, wie er nackt auf dem Gehweg liegt, den Kopf auf den Boden schlägt und vor den Soldaten zappelt.
    Worüber musst du so lange nachdenken? Wenn man mir nur ein Viertel von dem angetan hätte, was sie mit dir gemacht haben, ich würde sie bis ans Ende der Welt verfolgen, ich würde Mörder anheuern, damit sie Rache üben, sogar jetzt noch.
    Nein, sagt er, und läßt seine Folterer vor sich antreten, den Leiter der Verhöre, Oberstleutnant Doktor Aschraf mit den kleinen listigen Augen, einem ekelhaft blumigen Hebräisch, mit diesen Händen, die ihn aufgerissen haben; die Gefängniswärter in Abassija, die ihn bei jeder Gelegenheit schlugen und ihre Freude daran hatten, ihn länger als die anderen zu quälen, als mache etwas an ihm sie jedes Mal von Neuem wahnsinnig. Und die zwei, die ihn lebendig begruben, undder, der sich über ihn gebeugt und ihn fotografiert hatte, und die beiden von auswärts – Aschraf hatte ihm erzählt, er habe sie extra für ihn kommen lassen, zwei zum Tode verurteilte Vergewaltiger aus einem Gefängnis in Alexandria –, sogar die hasst er nicht mehr; er empfindet nur eine schale Verzweiflung, wenn er an sie denkt, und manchmal auch Trauer, einfach schiere Trauer, dass es das Schicksal so gewollt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher