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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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hatte, dass er dort war und all das gesehen hat.
    Der Weg führt scharf nach links hinunter und rettet sich in das trockene Flusstal des Nachal Chejk, und es sieht aus, als ginge es steil in die Tiefe, direkt in den Bauch der Erde; sie müssen aufpassen, wohin sie treten, denn die Felsen sind feucht vom Tau, sehnige Baumwurzeln kreuzen ihren Weg, und die ganze Zeit tanzt die Sonne durch die Blätter wie durch ein Gewirr zarter Scherenschnitte.
    Warum richtet Adam mir plötzlich Grüße aus, wundert sie sich, was ist mit ihm los, was empfindet der denn?
    Eichen, Pistazienbäume und Kiefern, die wie Großeltern wirken, neigen sich von beiden Seiten des Wadis über sie, Efeu hängt von ihren Ästen, hier und da ein Erdbeerbaum, und hier, quer über den Weg, eine riesige gefällte Kiefer, ihre Zapfen sind tot, ihr Stamm wird schon weiß, Avram und Ora wenden im selben Moment den Blick ab.

    Bei einem trockenen Wassersammelbecken mit hohem, vertrocknetem Schilf kommen ihnen zwei hochgewachsene Jugendliche entgegen, der eine mit dichten dunklen Rastas, der andere mit wilden goldenen Locken, beide tragen winzige Kippas, sie haben freundliche Gesichter und schleppen riesige Rucksäcke mit darübergebundenen Schlafsäcken. Ora und Avram haben Erfahrung mit solchen Begegnungen, fast immer sagen sie kurz Schalom , treten mit gesenktem Blick zur Seite und lassen die anderen Wanderer vorbeigehen; doch diesmal begrüßt Ora die Jugendlichen mit einem breiten Schalom und nimmt ihren Rucksack ab. Woher seid ihr? fragt sie, und die beiden tauschen etwas überrascht Blicke, doch Oras Lächeln ist warm und herzlich.
    Habt ihr Lust auf eine Kaffeepause? Ich habe vorhin frische Waffeln gekauft. Koschere, fügt sie angesichts ihrer Kippas hinzu und plappert und lacht mit ihnen, sprudelt vor mütterlicher Wärme, scheint aber auch ein bisschen zu flirten, und die beiden nehmen die Einladung an,obwohl sie erst vor einer Stunde einen Kaffee getrunken haben, mit einem Jerusalemer Arzt, der ihnen alle möglichen seltsamen Fragen gestellt und auch ihre Antworten aufgeschrieben hat, auf so einen Block. Ora spannt sich an.
    Auf ihre Bitte erzählen sie nach einem Moment des Zögerns, was sie von ihm erfahren haben, als sie mit ihm Kaffee tranken – der macht richtig guten Kaffee, betont der Dunkelhaarige –, und so kommt heraus, dass er und seine Frau vor Jahren eine Wanderung entlang dem Israelweg geplant hatten, vom äußersten Norden bis nach Taba, fast tausend Kilometer, aber dann ist seine Frau krank geworden und gestorben, vor drei Jahren – jetzt unterbrechen sich die beiden gegenseitig, begeistert von der Geschichte und vielleicht auch von Oras hypnotisiertem Blick –, und bevor sie starb, habe seine Frau ihn gebeten, ihre gemeinsame Wanderung auf jeden Fall zu machen, auch allein, und sie habe etwas Zusätzliches gesucht, was er unterwegs außerdem noch machen könne, der mit den goldenen Locken lacht, und schließlich war sie auf diese Idee gekommen, nun reißt der Dunkle die Geschichte an sich, dass er jedem, den er trifft, zwei Fragen stellt. Die beiden erzählen zusammen, es sieht aus, als ginge ihnen erst jetzt, wo sie davon erzählen, die Bedeutung der Geschichte richtig auf. Ora lächelt, hört kaum noch zu, versucht vielmehr, sich die Frau vorzustellen, die bestimmt sehr hübsch gewesen ist, Ora sieht sie als eine reife, leuchtende Schönheit, gleichzeitig zart und irdisch, mit wallendem honigfarbenen Haar …
    Für einen Moment vergisst sie ihre Not und fühlt sich zu dieser fremden Frau hingezogen – » Tami, Tamari, Tamjuscha« hat er sie genannt –, die auf dem Sterbebett für ihren Mann »etwas Zusätzliches« suchte.
    Oder jemand Zusätzlichen, denkt sie, lächelt anerkennend und wohlwollend beim Gedanken an die Frau, die ihren Mann wohl gut kannte und ihm diese zwei Fragen mitgegeben hatte, vor denen keine Frau bestehen kann.
    Die beiden Jugendlichen sammeln schon Zweige und Reisig, machen Feuer, stellen einen verrauchten Wassertopf auf und bieten ihre Kräuter an, Ora holt immer mehr Lebensmittel aus ihrem Rucksack. Wie aus einem Zauberhut, lacht sie, freut sich an den großzügigen Bewegungenihrer Hände. Alles, was sie heute früh aus dem Minimarkt mitgebracht hat, breitet sie vor ihnen aus, bemerkt Avram besorgt, Hummus, Ziegenkäse, gute grüne Oliven, auch ein paar Fladenbrote, die sogar noch warm und weich sind, sie verführt sie regelrecht, alles zu probieren, und sie lassen sich gerne verführen, schon lange
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