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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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schwindlig von der Blüte der Heckenkirschen und Winden. Hand in Hand von Adas Haus zu Oras Haus und wieder zurück, zwischen kahlen Wiesen, Gasflaschen und von Mehltau befallenen Rosensträuchern, Teppichen von Kapuzinerkresse. Sie schauten durch die Blätter des Ficus ängstlich auf erleuchtete Balkone, auf denen Erwachsene, Männer und Frauen, deren markante Gesichter ihnen wie die von Statuen, wie von Kaisern im Exil erschienen, in Unterhemden und mit tiefen Ausschnitten und faltiger Haut vor großen Ventilatoren saßen, Karten spielten, lauthals lachten oder kaum hörbar seufzten. Und dann meinten sie plötzlich, alle beide, sie würden verfolgt, und flohen vor etwas, was über ihnen schwebte und sich wie ein Lasso um sie zu legen drohte, und rannten weg, ohne sich umzuschauen.
    Als Ada zehn war, stachen sie sich mit einer Nadel in die Finger und vermischten ihr Blut. Ada sagte, das sei nicht genug, und schob Ora mit einer heftigen Bewegung ihren Finger in den Mund und nahm Oras Finger zwischen ihre Lippen. Von einem merkwürdigen Impuls getrieben, saugte Ora und war überrascht: Wie süß war Adas Blut! Sie sah Adas Pupillen, die sich verengten und dunkler wurden. Beide zogen im selben Moment ihre Finger zurück, und Ada sagte staunend, jetzt haben wir für immer dasselbe Blut in unserem Kreislauf, und sie lächelte merkwürdig fern, beinahe drohend, als sagte sie Ora ohne Worte: Jetzt hast du keine Chance mehr.
    Zettelchen, die in den Stunden hin und her wanderten, schwebten vor Oras Augen, als hätten sie sie eben erst geschrieben. »Ach, dieser Geiz der Natur«, hatte Ora gekritzelt, »warum ist Avinoam S. bloß schön, aber nicht klug?« Und Ada hatte geantwortet: »Welch eine Enttäuschung, meine Liebe, er ist schön wie ein himmlischer Engel, aber dumm wie der letzte Bengel. Oje, wo finden wir einen Engel, der beides ist?« »So einen gibt’s nicht auf der ganzen Welt«, stellte Ora fest.»Muss es aber geben«, beharrte Ada, »sonst müssen wir notgedrungen die anrüchige Bigamie wieder einführen.« »Das müssen wir wohl oder übel«, wagte Ora zu schreiben. Für einen Moment ruhten die Zettelchen. Beide stellten sich vor, was das wohl bedeuten würde, fühlten den Kitzel im Bauch und kicherten.
    Sie ließen einander an allen Details ihres Lebens teilnehmen, und »an jedem Gedanken, wie erhaben oder schmählich er auch sein mag«. Ada hatte diese Gesetze verabschiedet, Ora hätte noch nicht einmal gewagt, sich so etwas zu wünschen. Und jetzt, gegenüber dem schwer atmenden, schon beinah schnarchenden, in tiefen Schlaf gehüllten Avram – im Dunkel war sein Körper etwas Dunkles, Rundlich-Festes –, schaute Ora ihn lieb an und sagte sich, nach dem, was man im Dunkeln sieht, ist er doch ein ganz süßer Kerl, so ein Teddybär, lustig und ungefährlich – jetzt denkt sie, wäre Ada nicht gewesen, sie hätte gar nicht gewusst, dass so was möglich ist, dass es überhaupt erlaubt ist, dass sich zwei Menschen so nahe sind.
    Sie seufzte. Avram seufzte ihr nach, und für einen Augenblick war sie nicht sicher, ob er wirklich schlief.
    Sag mal Avram …
    Was? Was hast du gesagt?
    Stört es dich nicht, dass ich so bin?
    Wie, so?
    Dass ich nicht rede
    Aber du redest doch …

    Dann kamen die Chanukkaferien, sagte sie, und ihre Stimme verkrampfte sich. Ich war mit meinen Eltern und meinem Bruder in Naharia, da sind wir jedes Jahr hingefahren, in eine Pension, für die ganze Woche. Und am Morgen nach den Ferien bin ich in die Schule gegangen und hab am Kiosk auf sie gewartet, wo wir uns jeden Morgen getroffen haben, aber sie kam nicht, und es wurde schon spät, da bin ich allein gegangen und hab gesehen, sie ist nicht in der Klasse, und ich hab sie im Schulhof gesucht und auf dem Baum, an allen unseren Orten, aber sie war nicht da, und dann hat es geklingelt, und sie kam nicht, vielleicht ist sie krank, dachte ich, vielleicht kommt sie auch nur zu spät und macht im nächsten Augenblick die Tür auf. Aber dann kamunser Klassenlehrer, und wir sahen, er war ganz durcheinander, und er hat sich so mit der Seite zu uns hingestellt und gesagt, unsere Ada … und dann ist er in Tränen ausgebrochen, und wir haben nicht verstanden, das Weinen kam ihm so aus der Nase …
    Sie sprach flüsternd und schnell, Avram drückte ihre Hand fest in seinen Händen, er tat ihr weh, und sie zog ihre Hand nicht zurück.
    Und dann hat er gesagt, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, am Abend zuvor, in Ramat-Gan. Sie hatte dort
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