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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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eine Cousine, sie war auf der Straße gelaufen, dann kam ein Bus, und das war’s.
    Schnell und heiß trafen ihre Atemstöße auf seine Hand.
    Und was hast du gemacht?
    Nichts.
    Nichts?
    Hab dagesessen. Ich weiß nicht mehr.
    Avram atmete schwer.
    Ich hatte zwei Bücher von ihr im Ranzen, zwei Bände der Jugend-Enzyklopädie , die ich ihr nach den Ferien zurückgeben wollte, und die ganze Zeit hab ich mir überlegt, was mach ich jetzt damit.
    So hast du es zum ersten Mal gehört, in der Klasse?
    Ja.
    Das kann nicht sein.
    Doch.
    Und danach?
    Weiß ich nicht mehr.
    Und ihre Eltern?
    Was?
    Was ist mit denen?
    Keine Ahnung, was mit denen ist.
    Ich denk nur, wenn mir so was passieren würde, so ein Unfall, meine Mutter würde bestimmt verrückt, sie würde daran sterben.
    Ora richtete sich auf, zog ihre Hand weg, lehnte sich an die Wand.
    Aber, was haben sie dir erzählt?
    Wer?
    Ihre Eltern.
    Über den Unfall?
    Ja, und über Ada, sie haben dir doch sicher alle möglichen …
    Nein, sie haben nichts gesagt.
    Wie kann das sein?
    Ich hab nicht …
    Ich hör dich nicht, komm ein bisschen näher.
    Ich hab nicht mit ihnen geredet.
    Überhaupt nicht?
    Seitdem nicht.
    Warte, sind die auch umgekommen?
    Die Eltern? Wieso … Die wohnen bis heut im selben Haus.
    Aber du hast doch … gesagt, du und sie, ihr wärt wie Schwestern gewesen …
    Ich bin da nicht hingegangen …
    Ihr Körper begann sich zu versteifen, nein-nein, sie stieß ein scharfkantiges Lachen aus, kalt und fremd: Ich geh da nicht hin, nein-nein … Auch meine Mutter hat gesagt, es ist besser, wenn ich da nicht hingeh, um sie nicht noch trauriger zu machen. Ihr Blick wurde immer glasiger: Und so ist es auch ganz gut, glaub mir, so ist es das Beste, man muss nicht über alles reden.
    Avram schwieg. Zog die Nase hoch.
    Aber in der Schule haben wir einen Aufsatz über sie geschrieben, jedes Kind hat was geschrieben, ich auch, und die Lehrerin hat alles eingesammelt und ein Heft daraus gemacht und gesagt, sie würde es Adas Eltern schicken, ja, und ein Schlafanzug von mir ist sogar noch bei ihr zu Hause, ich weiß noch nicht, was ich da machen soll.
    Plötzlich drückte sie sich die Faust fest gegen den Mund: Warum erzähl ich dir das alles überhaupt?
    Sag mal, hatte sie wenigstens Geschwister?
    Nein.
    Sie war ganz allein?
    Ja.
    Nur sie und du …
    Und?
    Schon gut.
    Nein, sag ruhig, was du denkst.
    Schon gut.
    Du verstehst nicht, das ist nicht richtig, was du jetzt … sie haben recht gehabt!
    Wer? Von wem redest du?
    Meine Eltern. Nicht mein Vater, aber meine Mutter, die kennt sich mit solchen Sachen am besten aus. Die ist von der Schoah. Und auch Adas Eltern wollten bestimmt nicht, dass ich komm, sie haben mich ja auch nie gebeten zu kommen. Sie hätten mich doch fragen können, meinst du nicht?
    Aber du kannst ja jetzt zu ihnen gehn.
    Nein, nein.
    Nach so langer Zeit wollen sie sicher wissen …
    Ich hab seitdem mit niemandem über sie gesprochen, und von ihr …
    Ora schüttelte den Kopf, zitterte am ganzen Körper und sagte: In der Klasse spricht schon keiner mehr von ihr, nie, zwei Jahre … Plötzlich fing sie an, den Kopf nach hinten an die Wand zu schlagen, ein Schlag, eine Silbe, ein Schlag, eine Silbe: als-hät-te-es-sie-nie-ge-ge-ben.
    Genug, sagte Avram, und sie hörte sofort auf. Starrte vor sich ins Dunkel. Jetzt hörten sie es beide: Irgendwo in einem der entfernten Zimmer weinte die Schwester. Es war ein leises, langgezogenes Klagen.
    Sag mal, fragte er nach einer Weile, und was haben sie mit ihrem Stuhl in der Klasse gemacht?
    Mit ihrem Stuhl?
    Ja.
    Was meinst du? Der steht da noch.
    Leer?
    Ja, natürlich leer. Wer würde sich da draufsetzen.
    Avram, halt mich fest!
    Er schreckte vor ihr zurück und fühlte sich von ihrer Angst angezogen, tastete sich vor, stieß auf Knie, einen dünnen, spitzen Ellbogen, eine winzige Rundung, glühende, trockene Haut. Mundfeuchtigkeit. Als er ihre Schulter berührte, umschlang sie ihn, zitterte, und er drückte sie an sich und lief in diesem einen Augenblick randvoll mit ihrem Leid.
    So saßen sie da, ineinander verschlungen. Ora heulte mit offenemMund, laufender Nase, verloren wie ein kleines Mädchen. Avram bemerkte ihren Mundgeruch, den Geruch von Krankheit. Ist schon gut, ist schon gut, sagte er und streichelte immer wieder ihren schweißnassen Kopf, ihr Haar, ihr feuchtes Gesicht.
    Später, viel später putzte sie sich mit dem Ärmel des Schlafanzugs die Nase: Du bist wahnsinnig gut, weißt du das? Du bist nicht
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