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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Autoren: David Grossman
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wie die normalen Jungs.
    Fangen wir jetzt mit den Beleidigungen an?
    Bleib so. Das ist gut so.
    Und so?
    So auch.

    Was meinst du?
    Über dich?
    Nein, du Depp, über hier.
    Ich weiß nicht, nur so.
    Nun sag schon …
    Trotzdem komisch, dass sie bloß diese Schwester für die Isolierstation haben.
    Die Araberin? Wieso, was …
    Die könnten ja, was weiß ich.
    Was?
    Alles Mögliche.
    Nein, die würde es nicht wagen.
    Es ist, als wären wir ihre Kriegsgefangenen.
    Die haben uns alle vergessen.
    Nein, sag das nicht, das ist bloß jetzt so, wegen der allgemeinen Lage.
    Ich sag’s dir, die wollen gar nicht an uns denken.
    Wie kommst du darauf, Ora, so ein Stuss.
    Stuss? Stuss? Jetzt hör mir mal gut zu, am Tag nachdem ich hier ankam, sind meine Eltern und mein Bruder aus Haifa gekommen, und man hat sie nicht reingelassen, verstehst du? Die haben sie nicht gelassen!
    Und was haben sie dann gemacht?
    Ich glaub, sie haben mir von weitem zugewinkt, von hinter demrunden Fenster haben sie so Zeichen gemacht, ich hab nichts verstanden, ich war halb tot, und dann sind sie gegangen!
    Meine Mutter war gestern da, glaub ich. Genau dasselbe, Luftküsse durchs Fenster …
    Noch nichtmal Briefe von meinen Kumpels hab ich gekriegt, nichts! Als hätten die mich schon vergessen.
    Eng beieinander saßen sie auf Oras Bett. Avram streichelte vorsichtig ihren Kopf und dachte, von ihm aus wär es ganz in Ordnung, dass sich keiner an sie erinnert, dass alle sie vergessen haben. Ihn würde es nicht stören, wenn es noch ein paar Tage so weiterginge. Manchmal schlich sich seine Hand von alleine weg und berührte ihren heißen Nacken oder glitt versehentlich über ihre langen, dünnen Oberarme mit den nussförmigen jungenhaften Wölbungen. Mit aller Kraft kämpfte er, weiterhin nur gut zu sein und ihr Gutes zu tun, doch gleichzeitig drängte es ihn gegen seinen Willen, auch ein bisschen Proviant für seine schwierigen Onaniereisen zu sammeln. Oras Kopf neigte sich ein bisschen nach hinten, als wolle sie sich anlehnen. Ein solcher Moment, rechnete Avram sich in seinem Nebel aus, würde ihm bestimmt für ein paar Wochen reichen. Aber nein, mit der nicht, mahnte er sich, mit der machst du das nicht.
    Sag mal …
    Was ist? Was hab ich gemacht?
    Was erschrickst du denn so … Ist es dir nicht komisch, dass wir beide so …
    Wie, so?
    Du musst wissen, ich war noch nie, noch mit niemandem, ich bin nicht … Nicht so, jedenfalls.
    Ich auch nicht.
    Wirklich? Nie?
    Avram grübelte einen Moment, blähte ein bisschen die Schultern und die Brust, ging im Flug die verschiedenen Möglichkeiten durch. Dann senkte er den Blick und sagte: Noch nie.

    In der nächsten Nacht – sie war mit ihrer Zählung der Tage und Nächte schon ganz durcheinander – kam Avram und schob einen Rollstuhl in ihr Zimmer. Sie wachte in kalten Schweiß gebadet auf. Wieder hattesie diesen merkwürdigen Albtraum gehabt, als krieche eine metallene Stimme um sie herum und erzähle ihr entsetzliche Dinge, in manchen Momenten war ihr klar gewesen, dass diese Stimme aus einem Transistorradio irgendwo auf der Station kam, vom Flur oder aus einem der leerstehenden Zimmer, und sie erkannte sogar, dass es die Propaganda auf Hebräisch von Donnerstimme Kairo war, mit diesem ägyptischen Sprecher und seiner blumigen Rhetorik – ihre Klassenkameraden konnten ihn schon gut nachahmen, mitsamt seinen urigen Hebräischfehlern –, doch dann meinte sie wieder, die Stimme komme aus ihr selbst und erzähle nur ihr, dass die siegreichen arabischen Armeen das zionistische Gebilde, das sie von allen Fronten bestürmten, bereits fast vollständig erobert hatten. Wellen mutiger arabischer Kämpfer überrennen in diesen Stunden Beer Schewa, Aschkelon und Tel Aviv, verkündete die Stimme, und Ora konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Die Flugzeuge des zionistischen Feindes fallen wie Fliegen vom Himmel, nachdem ägyptische Himmelsadler sie soeben präzise abgeschossen haben. Ora lag in ihrem Bett, gefangen in der Angst, die ihr diese Worte einflößten, ihre Kehle war trocken, und sie konnte nicht mal um Hilfe rufen. Danach verstummten die Stimmen, auch die Militärmusik entfernte sich und verklang. Da lag sie mit heftig schlagendem Herzen in ihrem Schweiß. Und sie dachte daran, dass Ada das alles schon nicht mehr mitbekam, alles, was Ora hier passierte, das war schon nicht mehr in Adas Zeit. Was heißt, nicht mehr in Adas Zeit? Wie soll man das verstehen, dass sie früher dieselbe Zeit hatten und dass Ada
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