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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens
Autoren: Luanne Rice
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Nonne, der James den Spitznamen Schwester Nemesis gegeben hatte. Sie waren an einem Fluss entlanggegangen, und als sie ein schattiges Plätzchen unter einer Trauerweide entdeckten, setzten sie sich.
    »Bis wir volljährig sind, nehme ich an«, erwiderte er. »Wie lange bleiben andere Jugendliche im Elternhaus?«
    Zu diesem Zeitpunkt hatten beide aufgehört, zu hoffen und zu fürchten, adoptiert zu werden. Sie waren ein Teil des Kinderheims. Die Nonnen behandelten sie liebevoll und gewährten den Schützlingen, die am längsten da waren – Kathleen, James und fünf oder sechs weitere Jugendliche –, zahlreiche Vergünstigungen. Bei einer Nonne genoss James gleichwohl besondere Aufmerksamkeit.
    Sie lebte nicht in St. Augustine’s, gehörte aber demselben Orden an wie die Schwestern, die das Heim leiteten. Manchmal kam sie allein, manchmal in Begleitung einer sehr beleibten Nonne. Streng und unnahbar, stellte sie James Fragen, legte ihm Intelligenztests vor oder fühlte ihm in ähnlicher Weise auf den Zahn. Jedes Mal, wenn sie auftauchte, geriet Kathleen in Panik und befürchtete, die Schwester würde ihm mitteilen, dass sie ein Zuhause für ihn gefunden habe. Doch das geschah nie.
    »Denkst du jemals darüber nach, woher wir kommen?«, fragte Kathleen, zerrupfte ein Weidenblatt und starrte ins Wasser.
    »Was meinst du damit?«
    »Ich rede von deinem Vater und deiner Mutter. Deinen Eltern. Denkst du jemals an sie?«
    Er schüttelte den Kopf. Sie betrachtete ihn, und sein Blick jagte ihr Angst ein. »Nie. Sie wollten mich nicht. Haben mich weggegeben. Warum sollte ich auch nur einen Gedanken an sie verschwenden?«
    »Ich weiß nicht. Es kommt mir einfach natürlich vor. Du könntest die Schwester nach ihnen fragen. Die immer kommt, um dich auszuquetschen.«
    »Schwester Nemesis? Oder Schwester Butterfass? Was sollten die mir schon erzählen können?«
    »Nun, aus irgendeinem Grund interessieren sie sich für dich. Vielleicht wissen sie etwas über deine Herkunft und würden es dir sagen, wenn du fragst – dir den Namen deiner Eltern verraten.«
    »Warum? Damit ich mich persönlich dafür bedanken kann, dass sie mich ins Heim abgeschoben haben?«
    »Du denkst also doch manchmal an deine Eltern.«
    »An diese lausigen Typen, die keinen Wert darauf gelegt haben, ihren eigenen Sohn kennenzulernen? Ha! Vergiss es, Kat. Und sag mir nicht, dass du an deine Eltern denkst.«
    Kathleen zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sogar oft an sie dachte und sich bisweilen ausmalte, dass sie gemeinsam im Heim auftauchen würden, in einer Luxuslimousine mit auffallenden silbernen Rädern. Sie würden die Treppe emporsteigen, ihre Mutter in einem kostbaren Pelzmantel, ihr Vater im Nadelstreifenanzug – wie die Adoptionsanwälte, die manchmal auf der Bildfläche erschienen und Ärger wegen des Papierkrams machten –, und erklären, dass sie zu Kathleen Murphy wollten.
    Sie würden sie natürlich auf den ersten Blick ins Herz schließen. Sie würde sich in ihre Arme stürzen und aus ihrem Mund erfahren, dass alles ein schreckliches Missverständnis war. Sie hatten nie vorgehabt, sie in ein Heim zu geben … An dieser Stelle geriet ihre Phantasie ins Stocken, doch sie konnte sich vorstellen, dass ein Gedächtnisverlust, eine finanzielle Notlage oder eine beinahe tödlich verlaufende Krankheit die Ursache war. Ihre Eltern würden ihr eröffnen, dass sie gekommen waren, um sie nach Hause zu holen, und sie würde darum bitten, James mitnehmen zu dürfen. Da ihre Eltern sie über alles liebten und ihr nichts abschlagen konnten, würden sie sofort einverstanden sein.
    »Nein, ich denke nie an sie«, sagte sie nun zu James, unfähig, die Wahrheit einzugestehen, weil sie wusste, dass er es als Verrat auffassen würde.
    »Gut.« Er nahm ihre Hand. »Wir sind in dieser Welt ganz auf uns alleine gestellt, Kat, vergiss das nicht.«
    »Aber was …«, begann sie bedächtig. Sie wünschte, sie könnte ihn für den Gedanken erwärmen, dass ihre Eltern möglicherweise wunderbare Menschen waren, so dass er vielleicht eher bereit sein würde, mitzukommen, wenn sie endlich erschienen, um sie abzuholen. »Was ist, wenn sie nett sind? Wenn sie uns wirklich geliebt haben, uns aber nicht behalten konnten?«
    »Kathleen.« Sein Gesicht war ganz nahe, und er sah ihr so eindringlich in die Augen wie damals, als sie klein waren und ihre Betten nebeneinanderstanden. Und nun, seit jenem Kuss im Heizungsraum, ergriff ein
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