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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens
Autoren: Luanne Rice
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hatten es offenbar nicht mehr erwarten können, dass der heißersehnte Tag begann, ungeachtet der Ermahnungen der Nonnen, sich erst nach der Ankunft umzuziehen.
    Die Fahrt nach Courtown in der Grafschaft Wexford war lang und schien ewig zu dauern. Die Mädchen saßen in dem einen Kleintransporter, die Jungen in dem anderen. Schwester Lucia fuhr den Wagen mit den Mädchen, hatte einen Musiksender im Radio eingeschaltet, und alle sangen mit. Kathleen saß in der letzten Reihe. Sie drehte sich fortwährend um und spähte aus dem Rückfenster, nach James Ausschau haltend.
    Am North Beach angekommen, stiegen alle in Reih und Glied aus. Decken wurden auf dem heißen Sand ausgebreitet, Wasserbälle aufgeblasen, und einige Kinder rannten unverzüglich ins Wasser. Als Kathleen T-Shirt und Shorts auszog, sah sie, wie James ihren blauen Badeanzug verstohlen musterte. Sie errötete und hoffte, dass er nichts merkte, sondern glaubte, die Hitze sei die Ursache.
    »Erzählst du mir jetzt, warum du zu spät zum Küchendienst gekommen bist?«, fragte sie, als sie zum Wasser hinuntergingen und sie überlegte, wann er ihre Hand ergreifen, sie hinter die Dünen ziehen und küssen würde. »Du hast es versprochen.«
    »Stimmt.« Er sah sich um, vergewisserte sich, dass sich die Nonnen außer Hörweite befanden.
    »Und?« Sie war aufgeregt, aber angesichts seines Blicks war ihr auch ein wenig bang zumute.
    »Ich habe zufällig etwas gehört, als ich vor dem Büro der Mutter Oberin stand.«
    »Was denn, James?«
    »Ich habe gehört, dass deine Eltern angerufen haben. Deine leiblichen Eltern, Kathleen. Sie wollen dich nach Hause holen.«
    »Sie wollen was?« Sie blieb wie angewurzelt stehen.
    »Es ist wahr.« Er ergriff ihre Hand. »Ich wollte es dir im Heim nicht sagen, weil ich wusste, dass es ein Schock für dich sein würde, Kathleen. Aber keine Angst, ich lasse nicht zu, dass sie dich mitnehmen. Was immer auch geschieht, du kannst dich auf mich verlassen.«
    »Aber James …«
    »Ich bin zu spät zur Arbeit erschienen, weil ich gewisse Vorkehrungen treffen musste. Ich war hinten im Hof und habe ein paar Sachen aus der Kapelle und aus dem Schuppen geholt und im Gebüsch versteckt. Sachen, die wir mitnehmen können, wenn wir abhauen, Kathleen.«
    »Abhauen?«
    »Ja«. Er nickte heftig. »Lebensmittel, Geld, ein paar Dinge, die wir verkaufen können.«
    »Verkaufen? Was redest du da?« Sie wich zurück. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen – das brennende Verlangen nach einem Kuss von James, die Phantasie von ihren leiblichen Eltern und der Vorschlag, gemeinsam zu fliehen, gingen über ihr Begriffsvermögen. »Hast du etwas gestohlen?«
    »Na und? Wir müssen uns schließlich irgendwie durchschlagen. Die Nonnen ziehen ernsthaft in Erwägung, dich zu deinen Eltern zurückzuschicken, man stelle sich das vor! Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Du weißt, dass ich für dich durchs Feuer gehen würde, oder?«
    »Aber vielleicht sind sie ganz nett.« Sie ergriff seine Hand. »Vielleicht erlauben sie, dass du mitkommst.«
    »Das darf doch nicht wahr sein!« James schüttelte sie. »Sie wollten dich nicht. Und nach dreizehn Jahren tauchen sie plötzlich auf. Wo waren sie denn die ganze Zeit? Kathleen! Vergiss es. Ich habe die Sachen, die ich für uns organisiert habe, in den Van geschmuggelt. Sie sind in meiner Tasche. Wir warten bis nach dem Mittagessen, wenn alle ruhen, dann schleichen wir uns davon. Du bist eine erstklassige Köchin, wie Schwester Anastasia sagte. Und ich erledige den Abwasch. Wir können irgendwann ein eigenes Restaurant eröffnen. Herrgott, ich wäre fast gestorben, als du sagtest, du würdest für deine Familie kochen.«
    »Ich dachte dabei an dich«, flüsterte sie.
    »Ich weiß. Und deshalb müssen wir weg.«
    Kathleen war entsetzt. Davonlaufen? Vor den Nonnen? Aus dem Heim? Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem ihre Eltern endlich kommen würden, um sie abzuholen? Tränen brannten in ihren Augen, und sie entzog sich James’ Griff. »Nein«, sagte sie. »Ich laufe nicht weg.«
    »Kathleen …«
    »Und du auch nicht. Wir müssen die Sachen zurückbringen. Es ist mir egal, um was es sich handelt, aber du bist kein Dieb und wirst auch jetzt nicht mit Stehlen anfangen. Bring die Sachen zurück, James.«
    Er stand reglos da, die Arme vor der knochigen nackten Brust verschränkt, und starrte sie an. Seine Augen waren hart, bestürzt, verletzt und so blau wie das Meer, das sie beim Blick über seine Schulter
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