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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens
Autoren: Luanne Rice
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heute die Säuglingsabteilung von St. Augustine’s vor sich, in der sie zusammen mit James gelandet war. Sie konnte sich genau daran erinnern, ungelogen, und wenn jemand behauptete, das sei unmöglich, das sei viel zu lange her, pflegte sie auf die Barrikaden zu gehen. Es war ihre älteste und nachhaltigste Erinnerung, die sie mit aller Macht verteidigte. Ihre Kinderbetten hatten nebeneinandergestanden. Wenn sie nachts weinte und sich zu ihm umdrehte, hatte er sie mit seinen großen, blauen Augen angeschaut. Ungeachtet, wie spät es war, er war hellwach, wachte über sie. Er war immer da, an ihrer Seite.
    Säuglinge und Kinder waren bis zum vierten Lebensjahr in denselben Schlafsälen untergebracht, unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Je hübscher ein Baby, desto schneller die Adoption. Vielleicht war es der Ruf der Schlaflosigkeit, der James anhaftete und eine Vermittlung während des ersten Lebensjahres verhinderte; und vermutlich war es Kathleens Neigung, sich Tag und Nacht die Augen auszuweinen, die ihre Chance auf ein neues Leben zunichtemachte. Beide wurden jedenfalls nicht adoptiert, aus welchen Gründen auch immer, und verbrachten das erste Lebensjahr zusammen.
    Noch bevor sie sprechen lernten, flüsterten und lachten sie miteinander in ihrem eigenen Kauderwelsch. Sie spielten Fangen im Kleinkindertrakt, zunächst kriechend, dann mit den ersten unsicheren Schritten. James’ Lieblingsspielzeug war ein Lamm aus Kordsamt und Kathleens eine Babypuppe mit roten Haaren.
    Im Alter von zwei Jahren nahm eine Familie James zur Probe auf. Kathleen erinnerte sich so deutlich daran, als wäre es gestern gewesen, an das Gefühl, als hätte man ihr den rechten Arm abgehackt. Statt zu weinen, hörte sie schlagartig auf, auch nur eine Träne zu vergießen – aber sie weigerte sich auch, zu reden, zu lachen und zu essen, und litt unter Schlafstörungen. Und wenn sie schlief, hatte sie die rothaarige Puppe an sich gepresst.
    Eines Nachts hatte sie durch die Gitterstäbe des Kinderbetts gegriffen, um James’ Bett näher heranzuziehen, auch wenn er nicht mehr darin lag, sondern ein plumper, kahlköpfiger kleiner Junge namens Bartholomew seinen Platz eingenommen hatte. Sie wollte nur die Matratze berühren, auf der James geschlafen hatte, oder einen Zipfel seines Kopfkissens. Doch der arme Bartholomew war zu Tode erschrocken, da er nicht wusste, was sie im Sinn hatte, und hatte sich bei dem Versuch, über das Gitter zu klettern und die Flucht zu ergreifen, den Arm gebrochen.
    Die Adoption auf Probe war für James nicht gut verlaufen.
    Er kehrte nach St. Augustine’s zurück. Obwohl die offizielle Begründung lautete, er habe nachts alle Bewohner des Hauses mit einer verblüffenden Imitation der Dubliner Krähen wach gehalten, wusste Kathleen es besser. Er hatte »Kah, Kah, Kah!« gerufen. Für einige glichen die Laute denjenigen der großen Vögel, die in den Bäumen an der Serpentinenstraße nach St. Stephen’s Green nisteten. Doch in Wirklichkeit bedeutete »Kah« Kathleen. Es war das erste Wort, das er gesprochen hatte.
    Mit drei kam Kathleen zu einem Ehepaar, das in einem Haus in Dun Laoghaire unweit des Hafens lebte. Die beiden waren schon älter, vom Leben und ihrer Unfähigkeit enttäuscht, ein eigenes Kind zu empfangen. Im Zuge des administrativen Prozesses hatten sie gestanden, dass ihnen der Priester ihres Sprengels zu der Adoption geraten hatte, um die Ehe zu retten. Sie rochen nach Kohl und Zigarettenrauch. Das Haus war im Gegensatz zu den weitläufigen, zugigen Räumlichkeiten des Kinderheims klein und beengt.
    Kathleens Herz war schwer, sie vermisste James. Nachts weinte sie leise vor sich hin, die rothaarige Puppe dicht an ihrem Gesicht. Wenn sie sich mit aller Kraft konzentrierte, konnte sie seine Gegenwart spüren, sah seine blauen Augen durch die Gitterstäbe ihres Kinderbetts. Ihr Kummer war so groß, dass sie Fieber bekam und die Laken mit Schweiß und Tränen tränkte.
    »Sie steckt voller Bakterien«, befand das Ehepaar und riss ihr die abgenutzte kleine Puppe aus den Armen. »Im Heim gibt es Krankheiten, und dieses grässliche Ding muss weg.« Sie warfen sie in den Mülleimer.
    In jener Nacht kletterte Kathleen, nachdem das Ehepaar schlafen gegangen war, aus ihrem Gitterbett, tappte durch den dunklen engen Korridor und kroch rückwärts die steile Treppe hinunter. Ihr Herz war gebrochen, und obwohl sie erst drei Jahre alt war, wusste sie, dass sie nichts zu verlieren hatte. Sie öffnete
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