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Eine Frage der Balance

Eine Frage der Balance

Titel: Eine Frage der Balance
Autoren: Diana W. Jones
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versucht, aber er ist nicht erreichbar. Wie schnell kannst du hier sein?«
    »In einer halben Stunde.« Stan wohnt außerhalb von Newmarket. Weavers End, wo ich lebe, liegt gleich hinter Cambridge.
    »Gut. Dann kann ich bei ihm bleiben, bis du kommst.« Sollte heißen: ihn solange am Leben halten, wenn nötig. Falls Stan wirklich im Sterben lag, würde er noch die letzten Dinge regeln und mir die Magid-Angelegenheiten übergeben wollen. »Bis dann also«, sagte Will und legte auf.
    Trotz allem nahm ich mir die Zeit, Kaffee aufzugießen und die Großmeisterin per Fax davon in Kenntnis zu setzen, daß ich die Absicht hatte, mich bei der Hohen Kammer über das Kaiserreich zu beschweren. Die Großmeisterin lebte etliche Welten Minderwärts, und normalerweise bereitete es mir große Mühe, ein Fax dorthin zu senden. Diesmal war es ein Kinderspiel: fünf wütende, deutliche Sätze in null Komma nichts.
    Ich war zu beschäftigt, um an Stan zu denken, doch als ich in meinen Wagen stieg, wanderten meine Gedanken zu ihm. Unter normalen Umständen ist mir das Einsteigen in mein Auto ein kleines Fest, besonders, wenn ich eine Zeitlang weggewesen bin. Es ist ein herrliches Auto - das Auto, von dem ich schon als Junge geträumt hatte. Gewöhnlich halte ich einen Moment inne, um mir bewußt zu machen, wie gut es ist, daß ich genug Geld verdiene, um mir einen solchen Wagen leisten zu können. Nicht an dem Tag. Ich stieg einfach ein und fuhr los, goß mir unterwegs Kaffee aus der Thermosflasche in einen Becher und dachte an Stan.
    Stan hatte als Mentor erst Will, dann unseren Bruder Simon und schließlich mich in den Zirkel der Magids eingeführt. Er lehrte mich das meiste von dem, was ich heute weiß. Ich war nicht sicher, ob ich wußte, was ich ohne ihn tun würde, und betete, daß er oder Will sich geirrt hatten, und er nicht im Sterben lag. Aber ein Magid zu sein bedeutet unter anderem auch, sich in solchen Dingen nicht zu irren.
    »Verdammt!« Dauernd mußte ich blinzeln, weil mir die Augen feucht wurden, und ich fuhr, ohne die Straßen bewußt wahrzunehmen, bis ich die grasbewachsene Einfahrt zu Stans Bungalow entlangholperte.
    Ein häßlicher Kasten. Ein Schandfleck. Er sah aus wie ein großer Quader Stiltonkäse mitten auf dem flachen Heideland. Wir pflegten Stan damit zu necken, in was für einer architektonischen Platitüde er hauste, doch er antwortete immer nur, er sei ganz zufrieden dort. Leute, die mich kannten, und besonders Leute, die unsere ganze Familie kannten, wunderten sich, was wir an einem verkrachten Ex-Jockey wie Stan fanden. Sie fragten, wie wir es über uns brachten, ständig bei ihm in seiner schäbigen Baracke zu hocken.
    Die Antwort ist, daß alle Magids ein Doppelleben führen. Wir müssen unseren Lebensunterhalt verdienen wie jeder andere. Stan war Fachmann, was Rennpferde anging, und beriet Scheichs und andere reiche Männer auf diesem Gebiet. Ich selbst bin Designer von Computersoftware, Spiele hauptsächlich.
    Ich parkte meinen Wagen neben Wills Vehikel. In der Abenddämmerung und im Gegenlicht könnte man es für einen Landrover halten. An hellen Tagen wendet man den Blick ab und denkt, man wäre einer optischen Täuschung erlegen. Als ich mich daran vorbeischob, öffnete Will die flaschengrüne Haustür.
    »Gutes Timing«, sagte er. »Ich muß jetzt weg und die Ziegen melken. Er ist im linken Vorderzimmer.«
    »Ist er ...?«
    »Ja.« Will nickte. »Ich habe ihm Lebwohl gesagt. Schade, daß Si nicht aufzutreiben ist. Er steckt irgendwo Mehrwärts, und ich kann ihn auch über Dritte nicht erreichen. Stan hat ihm einen Brief geschrieben. Laß mich wissen, wie’s gelaufen ist, ja?« Er ging ernst an mir vorbei und stieg in sein absonderliches Gefährt.
    Ich betrat den Bungalow. Stan lag in seiner ganzen Länge von einem Meter dreiundfünfzig auf einem schmalen Bett am Fenster.
    Seine leicht gekrümmten Reiterbeine steckten in Jeans von Kindergröße, und eine Socke hatte eine dünne Stelle am großen Zeh. Auf den ersten Blick hätte man nicht gedacht, daß es besonders schlimm um ihn stand, sich vielleicht nur gewundert, daß er nicht auf war und mit irgend etwas beschäftigt. Doch wenn man in sein Gesicht schaute, sah man, wie sich die Haut merkwürdig straff über die Knochen spannte, und seine Augen unter der hohen Stirn traten vor wie die einer Katze, glänzend und fiebrig.
    »Was hat dich aufgehalten, Rupert?« witzelte er, ein wenig kurzatmig. »Will hat dich vor gut fünf Minuten
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