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Eine Frage der Balance

Eine Frage der Balance

Titel: Eine Frage der Balance
Autoren: Diana W. Jones
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zweiten Blick gönnen würde. Eine halbe Portion eben, kurzsichtig und komplexbeladen. T im os IX. war einer der sehr wenigen Menschen in Koryfos, die eine Brille tragen mußten. Das machte mich befangen, als ich aufstand. Ich war die einzige andere Person im Raum mit Brille - als wollte ich den Eindruck erwecken, dem Herrscher ebenbürtig zu sein. In vieler Hinsicht ist ein Magid jedem Herrscher ebenbürtig, aber bei diesem speziellen Anlaß war ich ein bloßer Zuschauer, per Gesetz zur Anwesenheit verpflichtet, einzig, um zu bestätigen, ob oder ob nicht der Angeklagte gegen das Gesetz verstoßen hatte, wie ihm zur Last gelegt, und auch das erst, nachdem man zu einem Urteil gelangt war.
    Dies wurde mir - mit anderen juristischen Fakten - in ermüdender Ausführlichkeit während der Vorreden zur Kenntnis gebracht, nachdem wir alle wieder Platz genommen hatten und der Gefangene hereingeführt worden war. Es handelte sich um einen sympathisch aussehenden jungen Mann im Alter von vielleicht einundzwanzig Jahren, namens Timotheo. Er sah nicht aus wie ein Gesetzesbrecher. Ich muß gestehen, daß ich nur einmal aufhorchte, als gesagt wurde, Timotheo sei ein Deckname und daß aus obskuren juristischen Gründen sein wirklicher Name geheim bleiben müsse. Davon abgesehen, konnte ich mein schläfriges Hirn nicht zwingen, dem Vortrag zu folgen. Statt dessen wanderten meinen Gedanken erneut zu Koryfos dem Großen. Mir schien es, daß er im Reich die Stelle einer Religion besetzte. Diese elende Gegend besaß Religionen im Überfluß, ein ganzes Kuriositätenkabinett von mehr oder minder göttlichen Wesen, aber deren Anbetung erfolgte nach der Regel: »Jedem das seine«. Zum Beispiel hatte Timos IX. sich vor ungefähr fü nfz e hn Jahren dem Kult einer ganz besonders unliebenswürdigen Göttin verschrieben, die in einem Busch auf dem Grab eines toten Anbeters hauste und ihren Anhängern einen freudlosen Moralkodex aufzwang - vielleicht eine Erklärung für des Kaisers verhärmtes und griesgrämiges Aussehen. Doch niemand sonst am Hof hatte sich bewogen gefühlt, den Glauben des Kaisers anzunehmen. Koryfos war es, der alle vereinte. An diesem Punkt wurde ich aus meinen müßigen Gedankengängen gerissen. Der Kaiser höchstselbst verlas in umständlichem Juristenjargon die Anklagen gegen den jungen Mann. Aller Verklausulierungen entkleidet, war sie haarsträubend, selbst für koryfonische Verhältnisse. Der sogenannte Timotheo war des Kaisers ältester Sohn. Das Gesetz, das er angeblich gebrochen hatte, besagte, daß kein Sproß des Kaisers, gleich von welcher seiner Gemahlinnen zur Rechten oder zur Linken oder Erwählten Gespielinnen, je wissen durfte, wer seine oder ihre Eltern waren. Darauf, es herauszufinden, stand der Tod. Auch der Tod für jeden, der einen Kaiserlichen Sproß bei den Nachforschungen unterstützte.
    Anschließend richtete der Kaiser an Timotheo die Frage, ob er gegen dieses Gesetz verstoßen habe.
    Timotheo hatte ganz offensichtlich von diesem Gesetz ebenso wenig gewußt wie ich; seine bestürzte und zornige Miene spiegelte, was ich fühlte. Am liebsten hätte ich applaudiert, als er trocken antwortete: »Sire, wenn ich vorher nicht dagegen verstoßen hätte, dann spätestens jetzt, als Ihr mir meine Herkunft enthüllt habt.«
    »Aber habt Ihr das Gesetz gebrochen?« wiederholte Seine Majestät beharrlich.
    »Ja.«
    Trick siebzehn, dachte ich aufgebracht. Was für eine Farce!
    Aber keineswegs lustig, denn Timotheo war ebenso intelligent wie sympathisch. Er hätte einen um vieles besseren Herrscher abgegeben als sein Vater. Offenbar hatte es einigen Scharfsinns bedurft, die Wahrheit über seine Herkunft herauszufinden. Er war als eines von vier Zie hkin dern im Haus eines Landedelmanns aufgewachsen, und im Verlauf der Befragung wurde deutlich, daß seine >Geschwister< und der Ede lmann ihm geholfen haben mußten. Timotheo aber bestand darauf, daß er allein die Detektivarbeit geleistet und das Geheimnis gelüftet hatte. Dann hatte er den Fehler begangen, um Bestätigung an seine Mutter zu schreiben, eine von des Kaisers Gemahlinnen zur Linken.
    »Ist dir nicht der Gedanke gekommen, daß, sobald deine Identität bekannt war, Unsere Feinde dich hätten entführen können, um Uns zu bedrohen?« fragte ihn der Kaiser.
    »Ich hatte nicht die Absicht, damit hausieren zu gehen«, antwortete Timotheo. »Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen.«
    »Dann hattest du die Absicht, Anspruch auf den Thron zu
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