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Eine Feder aus Stein

Eine Feder aus Stein

Titel: Eine Feder aus Stein
Autoren: Cate Tiernan
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sich nach oben.
    Dort angekommen bahnte er sich durch wuchernde Rankengewächse und dichtes Strauchwerk einen Weg landeinwärts. Immer wieder blinzelte er durch die ausladenden Baumkronen, um den Sonnenstand zu kontrollieren. Er hatte gerade noch genug Zeit – allerdings nur, wenn er sich nicht wieder verirrte.
    Clio machte seinen Seelenfrieden zunichte. Aber warum nur? Sie bedeutete ihm gar nichts. Sie war lediglich ein weiteres Unglück in einer langen Reihe von Unglücksfällen. Richard hatte geglaubt, einen Ausweg aus der Situation finden zu können, doch jetzt wusste er, dass er machtlos war. Plötzlich fiel ihm etwas ein und für einen Moment blieb er stocksteif stehen. Wenn Clio nicht über Luc hinwegkam und Luc, der Bastard, die Situation ausnutzte, dann konnte Clio ohne Weiteres genauso enden wie die zwölf Frauengenerationen vor ihr, Cerise eingeschlossen. Sie konnte schwanger werden. Und dann würde sie sterben.
    Noch vor einem Monat hatte Richard weder Thais noch Clio gekannt. Er hatte sich von dieser ganzen, dem Untergang geweihten Sippe distanziert und genau gewusst, ihm würde früher oder später ohnehin zu Ohren kommen, dass die letzte Version der gebrandmarkten Frauen gestorben war. Er hätte sich einen Moment schlecht gefühlt und sein Unbehagen dann abgeschüttelt.
    Doch jetzt kannte er Clio. Clio und Thais. Abgesehen von Cerise war Clio die einzige Frau aus der Familie, die er je begehrt hatte.
    Was, wenn Luc sie schwängerte? Wie aus dem Nichts schoss ihm Clios Bild durch den Kopf, ihr schönes Gesicht, ihre vor Angst geweiteten grünen Augen, ihr schwarzes verschwitztes, strähniges Haar und die blutbesudelten Hände. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte er sich ihr regloses Gesicht vor, den starren Blick und ihren Körper, der so durchnässt war, als habe es auf ihn herabgeregnet. Clio würde sterben.
    Der Boden unter ihm begann sich zu drehen und er fiel auf die Knie. Er schloss die Augen, schluckte schwer und lehnte sich nach vorne, eine Hand auf die warme Erde gestützt. Clio tot. Er zwinkerte mehrere Male, um das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. Es war so ungewöhnlich deutlich und real gewesen, wie eine Vision. Langsam kam er in seine kniende Haltung zurück und wünschte sich inbrünstig, er hätte seine Zigaretten nicht in dem verfluchten Boot gelassen. Wieder schluckte er und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er fühlte sich zittrig und fröstelte.
    Er blickte sich um und sandte seine Sinne aus, um sicherzugehen, dass er auch wirklich allein war. Er nahm nichts Ungewöhnliches wahr. Nichts als Pflanzen, Tiere, Insekten. Und eine sehr feine, flirrende Vibration uralter Magie, die noch immer in der Luft hing.
    Er erhob sich und lief darauf zu.
    Clio. Schon seit Ewigkeiten hatte er keine solche Vision mehr gehabt. Überhaupt war ihm das in seinem Leben nur ein paar Mal passiert. Das erste Mal an dem Nachmittag vor Melitas Zirkelsitzung. Er hatte das Feld seines Vaters geeggt und Cerise plötzlich tot vor sich gesehen. Sie war vom Regen durchnässt gewesen und Melita hatte lachend neben ihr gestanden, um sie herum überall Blut. In jenem Moment hatte er begriffen, dass Cerise noch in derselben Nacht während des Zirkels sterben würde.
    Und doch war er hingegangen.
    Er erblickte eine seiner Landmarken, einen gewaltigen Granitfelsen, beinahe so groß wie er selbst. Ein solcher Fels würde in Louisiana nie natürlich vorkommen. Er schaute sich um und fand den zweiten, dann den dritten. Zusammen formten sie ein unregelmäßiges Dreieck. Die Felsen sahen aus, als würden sie schon seit Jahrtausenden hier stehen. Richard fragte sich, wie viele zufällig vorbeilaufende Wanderer sie hier schon gesehen hatten, ohne zu merken, dass sie vollkommen fehl am Platz waren.
    Im Inneren des Dreiecks begann Richard beim nördlichsten Felsen und zählte seine Schritte ab. Er streckte die Arme aus, sodass sie auf die beiden anderen Felsen zeigten, machte eine halbe Drehung und sechs weitere Schritte. Dann ließ er sich auf die Knie fallen, zog eine Klappschaufel hervor und begann zu graben. Beim ersten kräftigen Stoß prallte die Schaufel ab, flog in die Luft und hätte ihn beinahe im Gesicht getroffen.
    Er blinzelte. Für einen kurzen Moment war er vollkommen verblüfft. Dann lächelte er reumütig. Leise sprach er einen Deaktivierungszauber. Dieses Mal glitt das Schaufelblatt mühelos in den dunklen fruchtbaren Boden. Er schippte eine Ladung Erde zur Seite und stieß die Schaufel dann
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