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Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Titel: Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Autoren: Y Lee
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die Brauen unwillig zusammen. Natürlich, sie hatte wieder mal vergessen abzuschließen. Sie war schon so eine Geheimagentin. »Das ist ein Privatzimmer«, sagte sie mit der eisigsten Stimme, als sich die Tür langsam öffnete. »Mach bitte die Tür wieder zu.«
    Anne Treleavens schmales bebrilltes Gesicht tauchte in dem Spalt auf. »Ich würde gerne kurz mit dir reden, Mary, wenn es jetzt nicht geht, auch später.«
    Mary sprang so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. »Miss Treleaven! Bitte entschuldigen Sie. Ich dachte, es wäre eins der Mädchen   – was allerdings auch keine Entschuldigung wäre   –, aber wenn   – also, wenn ich gewusst hätte   –«
    Anne brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Schon gut, Mary. Ich möchte nur kurz mit dir reden.«
    »Aber natürlich.« Hastig zog Mary den Schreibtischstuhl hervor.
    Sie saßen sich gegenüber, Anne auf dem Stuhl und Mary auf der Bettkante. Schließlich brach Anne das bedeutungsschwangere Schweigen. »Es kann ganz schön schwierig sein, in einem Internat seine Privatsphäre zu wahren.«
    Marys Gesichtsröte ließ etwas nach. »Ich habe großes Glück, ein Einzelzimmer zu bewohnen; ich weiß das.«
    Unvermittelt beugte sich Anne vor und faltete auf ihre Lehrerinnenart die Hände. »Meine Liebe, ich möchte mit dir über den Auftrag reden.«
    Marys Inneres zog sich zusammen. »Ich dachte, es sei alles besprochen, Miss Treleaven.«
    Anne nickte. »So ist es. Aber mir ist klar, dass dieser Einsatz gewisse Schwierigkeiten für dich mit sich bringt. Darüber wollen wir jetzt reden.«
    Mary öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, aber etwas in Annes Blick ließ sie verstummen.Schließlich brachte sie nur ein tonloses »Was meinen Sie denn?« heraus.
    »Ich hab da eine Theorie, Mary. Tust du mir den Gefallen und hörst sie dir ganz an, ehe du ein Urteil fällst?« Es war ein höflicher Befehl, keine Frage.
    Mary schluckte und senkte den Kopf.
    Anne sprach langsam und ruhig. »Deine Kindheit war, egal, welchen Maßstab man anlegt, sehr tragisch. Du hast deinen Vater verloren und musstest zusehen, wie deine Mutter unter Qualen starb. Mit zehn Jahren kanntest du bereits Hunger, Gefahr und Gewalt. In den Jahren, als du ohne Zuhause warst, hast du dich aus Gründen der Sicherheit als Junge ausgegeben. So war es leichter, sich durch die Stadt zu bewegen und einer Vergewaltigung zu entgehen, und du hattest damit eine bessere Überlebenschance. Erst, als du auf die Akademie kamst, hast du die Möglichkeit bekommen, gefahrlos als Mädchen zu leben. Ist das richtig?«
    Mary gelang nur ein stummes Nicken.
    »Eine Rückkehr zu den Jungenkleidern   …«   – Anne schien ihre Worte mit großer Sorgfalt zu wählen   – »muss Erinnerungen an ebenjene Gefahren und Entbehrungen hervorrufen.«
    Mary vergaß ihr Versprechen, stumm zuzuhören. »Es ist aber doch gar nicht das Gleiche! Mir ist sehr wohl bewusst, dass es sich um eine zeitlich begrenzte und nur gespielte Rückkehr handelt.«
    Anne nickte. »Natürlich; du bist zu klug, um etwas anderes anzunehmen. Was ich jedoch sagen will, ist,dass diese Ängste irgendwie immer noch ganz tief in dir sitzen. Das Ansinnen, dass du jene Zeiten nochmals erlebst   – wenn auch rein als Auftrag und mit der Gewissheit, dass du wieder in das ›richtige‹ Leben zurückkehrst   –, bereitet dir vielleicht Unbehagen.« Sie machte eine kleine verzweifelte Geste. »Mir fehlen die richtigen Worte. Ich meine, selbst wenn du diese Rolle nur spielst, muss die Vorstellung, wieder als Junge herumzulaufen, eine sehr unangenehme Erinnerung an die Vergangenheit für dich sein.«
    Tränen begannen Mary in den Augen zu brennen, und sie wagte es nicht, Anne anzusehen, als sie antwortete. »Während meines ersten Falles   … bei den Thorolds   … hatte ich doch auch mal Jungenkleider an. Da hat es mir auch nichts ausgemacht, in Hosen herumzulaufen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Es hat   – es hat mir sogar ziemlich Spaß gemacht.« Beim vorletzten Wort brach ihre Stimme.
    »Richtig. Aber ist es nicht möglich, dass du die Verkleidung damals mit anderen Augen gesehen hast? Als Abenteuer oder als Spiel?«
    »Und in diesem Fall nicht?«
    »Möglicherweise. Oder vielleicht war es auch anders, weil du das selbst gewählt hattest, und diesmal ist es ein Auftrag.« Anne seufzte. »Gefühle und Erinnerungen sind so komplex miteinander verknüpft.«
    Mary starrte auf ihre Hände, die sie fest im Schoß verschränkt hatte.
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