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Eine Evatochter (German Edition)

Eine Evatochter (German Edition)

Titel: Eine Evatochter (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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eine geborene de Fontaine, zur Frau hatte. Halb auf ein Kanapee hingegossen, ein Taschentuch in der andern Hand, unterdrückte die Gräfin das Schluchzen, das ihr den Atem benahm, und mit feuchten Augen machte sie ihrer Schwester soeben Anvertrauungen, wie sie nur zwischen zwei sich liebenden Schwestern möglich sind; und diese zwei Schwestern liebten sich zärtlich. Wir leben in einer Zeit, wo zwei so eigenartig verheiratete Schwestern sich sehr wohl nicht lieben können. Der Historiker muß also die Gründe für diese Zärtlichkeit angeben, die sich trotz aller gegenseitigen Verachtung ihrer Gatten, trotz allen gesellschaftlichen Gegensätzen stark und rein erhalten hatte. Ein kurzer Überblick über ihre Kindheit wird ihr gegenseitiges Verhältnis erklären.
    Sie waren in einem düstren Haus im Marais aufgewachsen, von einer frömmelnden, beschränkten Frau erzogen, die von ihren Pflichten durchdrungen war (so lautet der klassische Ausdruck) und die erste Aufgabe einer Mutter gegenüber ihren Töchtern erfüllt hatte. Als Marie Angelika und Marie Eugenie heirateten, die erste mit zwanzig, die zweite mit siebzehn Jahren, hatten sie noch nie den häuslichen Dunstkreis verlassen, über dem der Blick ihrer Mutter schwebte. Sie waren in kein Theater gegangen. Für sie waren die Pariser Kirchen das Theater. Kurz, ihre Erziehung zu Hause war so streng wie im Kloster. Als sie die erste Kindheit hinter sich hatten, schliefen sie in einem Zimmer neben dem Zimmer der Gräfin Granville, dessen Tür die ganze Nacht offen stand. Soweit sie ihre Zeit nicht mit Anziehen und Körperpflege, religiösen Pflichten oder Unterricht verbrachten, wie er sich für Mädchen aus vornehmem Hause geziemte, machten sie Handarbeiten für die Armen oder unternahmen Spaziergänge nach dem Muster der englischen Sonntagsspaziergänge, d. h. nach dem Grundsatz: »Wir wollen nicht so schnell gehen, sonst sieht es aus, als gingen wir zu unserm Vergnügen.« Ihre Bildung ging nicht über das hinaus, was ihre Beichtväter, unduldsame und streng jansenistische Geistliche, erlaubten. Nie kamen Frauen reiner und jungfräulicher in die Ehe. In diesem, allerdings recht wichtigen Punkt hatte ihre Mutter die Erfüllung all ihrer Pflichten gegen Gott und die Menschen erblickt. Die beiden armen Geschöpfe hatten vor ihrer Ehe weder Romane gelesen, noch etwas anderes gezeichnet als Figuren, deren Anatomie einem Cuvier als Meisterstück des Unmöglichen erschienen wäre. Die Vorlagen waren derart gestochen, daß sie auch den Farnesischen Herkules zum Weibe machten. Diesen Zeichenunterricht erhielten sie bei einer alten Jungfer. Ein ehrwürdiger Priester unterwies sie in Grammatik, Französisch, Geschichte, Geographie und dem bißchen Rechnen, das die Frauen brauchen. Ihre Lektüre am Abend bestand in lautem Vorlesen erlaubter Bücher, wie der »Erbauungsbriefe« und der »Literaturstunden« von Noël, und zwar in Gegenwart des Seelsorgers ihrer Mutter, denn es konnten doch Stellen vorkommen, die ohne geschickte Erläuterungen ihre Phantasie erregt hätten. Fénélons »Telemach« erschien bereits bedenklich. Die Gräfin Granville liebte ihre Töchter so sehr, daß sie sie zu Engeln nach Art der Marie Alacoque machen wollte, aber die Töchter hätten eine weniger tugendstrenge und etwas liebenswürdigere Mutter lieber gehabt.
    Diese Erziehung trug ihre Früchte. Als Joch auferlegt und in aller Strenge gehandhabt, ermüdete die Religion ihre jungen, unschuldigen Herzen mit ihren Pflichten, denn sie wurden wie Missetäterinnen behandelt. Sie unterdrückte ihre Empfindungen, und obwohl sie tiefe Wurzeln in ihren Herzen schlug, gewann sie sich doch keine Liebe. Die beiden Marien mußten entweder verblöden oder ihre Selbständigkeit herbeisehnen. Sie wünschten sich, zu heiraten, sobald sie eine Ahnung von der Welt hatten und ein paar Vorstellungen verknüpfen konnten, aber ihre rührende Anmut und ihre Herzensgüte blieb ihnen unbewußt. Sie kannten ihre eigene Reinheit nicht: wie sollten sie da das Leben kennen? Sie waren wehrlos gegen das Unglück und ohne Erfahrung, um das Glück schätzen zu können; so fanden sie in dem mütterlichen Kerker keinen anderen Trost als in sich selbst. Ihre sanften Anvertrauungen, die sie sich des Abends zuflüsterten, oder die paar Worte, die sie miteinander tauschten, wenn ihre Mutter sie für ein Weilchen verließ, enthielten manchmal mehr Gedanken, als Worte auszudrücken vermögen. Oft war ein heimlich gewechselter Blick, durch
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