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Eine Evatochter (German Edition)

Eine Evatochter (German Edition)

Titel: Eine Evatochter (German Edition)
Autoren: Honoré de Balzac
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waren und vernünftig zu werden begannen, etwa mit zwölf Jahren, als sie über den alten Schmuke schon nicht mehr lachten, errieten sie das Geheimnis, das die Stirn des Grafen in Sorgenfalten legte, und erkannten unter seiner strengen Maske die Zeichen eines guten Herzens und eines freundlichen Charakters. Sie begriffen, daß er in seinem Hause der Religion das Feld geräumt hatte, daß er in seinen Erwartungen als Gatte getäuscht, in den zartesten Regungen seines Vatergefühls verletzt war: der Liebe des Vaters zu seinen Töchtern. Derartige Schmerzen versetzen junge Mädchen, die der Zärtlichkeit entwöhnt sind, in eigentümliche Erregung. Bisweilen, wenn er mit ihnen einen Gang durch den Garten machte, die Arme um ihre schmalen Hüften schlingend und mit ihren Kinderschritten gleichen Schritt haltend, blieb er mit ihnen in einem Gebüsch stehen und gab einer nach der andern einen Kuß auf die Stirn. Sein Mund, seine Augen, sein ganzer Ausdruck verrieten dann tiefstes Mitgefühl.
    »Ihr seid nicht sehr glücklich, meine lieben Kleinen,« sagte er zu ihnen. »Aber ich werde euch bald verheiraten, und ich werde zufrieden sein, wenn ihr das Haus verlaßt.«
    »Papa,« sagte Eugenie, »wir sind entschlossen, den ersten besten zu heiraten.«
    »Das ist die Frucht eines solchen Systems!« rief er aus. »Man will Heilige erziehen und erzieht ...« Er vollendete den Satz nicht. Oft fühlten beide Mädchen die lebhafteste Zärtlichkeit aus den Abschiedsworten des Vaters oder aus seinen Blicken, wenn er zufällig mit ihnen speiste. Sie bedauerten diesen Vater, den sie so selten sahen, und wen man bedauert, den liebt man.
    Diese strenge religiöse Erziehung war die Ursache für die Verheiratung der beiden Schwestern, die das Unglück zusammengeschweißt hatte. Viele heiratslustige Männer nehmen ja lieber ein Mädchen zur Frau, das im Kloster erzogen und mit Frömmigkeit übersättigt, als ein Mädchen, das in weltlichen Lehren aufgewachsen ist. Ein Mittelding gibt es nicht. Ein Mann muß entweder ein sehr erfahrenes Mädchen heiraten, das die Zeitungsannoncen gelesen und sich seinen Vers darauf gemacht hat, das mit tausend jungen Männern Walzer und Galopp getanzt hat, in alle Theater gegangen ist, Romane verschlungen hat, der ein Tanzmeister die Knie gelenkig gemacht hat, indem er sie gegen die seinen drückte, das nicht nach Religion fragt und sich seine eigene Moral geschaffen hat, – oder ein unwissendes, reines junges Mädchen, wie Marie Angelika und Marie Eugenie. Vielleicht ist die Gefahr bei beiden gleich groß. Und doch zieht die erdrückende Mehrzahl der Männer, die nicht im Alter von Molieres Arnolphe stehen, eine fromme Agnes einer künftigen Celimene vor.
    Die beiden Marien waren klein und zart. Sie hatten den gleichen Wuchs, die gleichen Füße und Hände. Eugenie, die jüngere, war blond wie ihre Mutter. Angelika war dunkel wie ihr Vater. Aber beide hatten die gleiche Hautfarbe: jenes Perlmutterweiß, das den Reichtum und die Reinheit des Blutes verrät, eine Haut mit lebhaften Farben, die sich von ihr abheben wie von fleischigen Jasminblättern, gleich ihnen zart, glatt und weich anzufühlen. Eugenies blaue und Angelikas braune Augen hatten einen Ausdruck naiver Sorglosigkeit und ungewollten Staunens, der sich besonders in dem unbestimmten Schwimmen ihrer Pupillen auf dem flüssigen Weiß des Augapfels äußerte. Sie waren gut gewachsen; ihre etwas mageren Schultern sollten sich erst spät runden. Ihr so lange verhüllter Busen fiel durch seine Vollkommenheit auf, wenn ihre Gatten sie baten, für einen Ball ausgeschnittene Kleider anzulegen. Beide Frauen genossen dann jene reizende Scham, die diese ahnungslosen Geschöpfe erst im eigenen Hause und dann einen ganzen Abend lang erröten ließ.
    In dem Augenblick, wo unsere Geschichte beginnt, als die Ältere weinte und sich von der Jüngeren trösten ließ, waren beider Hände und Arme milchweiß geworden. Beide hatten ein Kind genährt, die eine einen Knaben, die andere ein Mädchen. Die Mutter, die Eugenie für sehr mutwillig hielt, hatte ihr gegenüber ihre Wachsamkeit und Strenge verdoppelt. In den Augen dieser gefürchteten Mutter erschien die edle und stolze Angelika als eine Seele voll hoher Begeisterung, die sich allein beschützen würde, wogegen es ihr nötig erschien, die muntere Eugenie im Zaum zu halten. Es gibt reizende Wesen, Stiefkinder des Schicksals, denen alles im Leben gelingen müßte und die doch unglücklich leben und sterben, die
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