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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Autoren: Philipp Jessen
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Kulturmanagerin. Sie hat ein kleines Büro in einem der Medienzentren, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen.
    Die Medienzentren schießen genauso schnell aus dem Boden wie die Sozialwohnungen.
    „Zum größten Teil“, sagt Sanne, „sind auch dieselben Leute drin.“
    Jeden Monat zahlt sie 6 Euro 80 pro Quadratmeter im Medienzentrum.
    „Macht 122,40 für ein 18-Quadratmeter-Büro“, sagt Sanne. „Ist immer noch zu viel.“
    Sie zündet sich eine Zigarette an. Sie wird vier und eine halbe Zigarette rauchen, während wir uns unterhalten. Sie inhaliert mit tiefen Atemzügen, saugt geradezu am Stengel. Bevor sie freischaffende Kulturmanagerin wurde, war Sanne in der Presseabteilung der Staatsgalerie. Davor arbeitete sie im Theaterhaus als Mädchen für alles. Davor schrieb sie Artikel für die Stadtzeitung Prinz. Davor arbeitete sie in einem Baumarkt.
    „In der Elektroabteilung“, sagt sie. „Die einzige Zeit, in der ich wirklich Geld verdient habe.“
    Vor dem Baumarktjob war sie mit einer freien Theatergruppe auf Tournee. Davor saß sie an der Kasse vom Kommunalen Kino. Davor studierte sie Kulturmanagement in Ludwigsburg.
    Während sie mir das alles erzählt, rührt sie ihren Kaffee um.
    „Wer an Selbstausbeutung glaubt“, sagt Sanne, „macht Kultur.“
    Der Löffel quietscht über das Porzellan der Tasse. Es klingt wie Zahnweh.
    Ich frage: „Bist du verheiratet?“
    „Ja“, sagt Sanne. „Seit neun Jahren.“
    Neun Jahre, das heißt Keramikhochzeit.
    Ich frage: „Wieso hat das nicht hingehauen? Das mit dem quadratischen Betonhaus mit den bunten Plastikplatten?“
    Sanne ist ein Teil der einkommensstarken Jungfamilie, die sich verrechnet hat.
    „Aha“, sagt sie. „Daher weht der Wind.“
    Die Kellnerin kommt, und ich bestelle Schwarzwälder Kirschtorte. Sanne sagt nichts mehr, bis die Torte auf dem Tisch steht. Sie sagt nichts, während ich die Torte esse, und nichts, als ich ein zweites Stück bestelle.
    Dann sagt sie: „Du kannst aber futtern. Sieht man dir gar nicht an.“
    „Ich bin eine gute Verbrennerin“, sage ich.
    „Ich nicht“, sagt Sanne. „Ich schau so ein Ding nur an und wiege zwei Pfund mehr.“
    „Das Leben ist ungerecht“, sage ich.
    Ich esse mein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch, während Sannes Löffel übers Porzellan quietscht. Sie sagt: „Simon hatte einen super Vertrag mit Stefan Raab. Mein Mann, Simon. Er ist Produzent und sollte alles machen, was zur Raab-Show gehört. Da dachten wir, jetzt können wir uns ein Haus leisten.“
    Simon ist der andere Teil der einkommensstarken Jungfamilie, die sich verrechnet hat.
    Frank fragte, warum willst du ihre Telefonnummer?
    „Nur so“, war meine Antwort. „Just for fun.“
    Das fragte er mich im Holiday Inn in Böblingen. Das Zimmer hatte die Nummer 318 und kostete 110 Euro die Nacht. Wenn man zum Fenster rausschaute, sah man auf die A 831.
    „Seltsame Art, sich zu amüsieren“, sagte Frank. Er gab mir die Nummer. Ein paar Wochen trug ich sie mit mir herum, das war Teil des Vergnügens. Dann rief ich an.
    „Und jetzt“, sage ich, „habt ihr also einen Berg von Schulden.“
    Quietsch, quietsch, quietsch macht der Löffel.
    Sanne starrt mich an. Dann sagt sie unvermittelt: „Wir waren in Davos beim Skilaufen. Am Jakobshorn. Simon musste unbedingt Snowboarden probieren, obwohl er noch nie auf so einem Ding gestanden hatte. Irgendwie ist er weggerutscht, hat sich das Knie verdreht. Kreuzbandriss, und die Innenbänder waren auch ab. Er hat zwar versucht, gleich nach der Operation wieder zu arbeiten, aber es ging nicht. Ein Freund von Simon, das heißt, ein Exfreund, sprang für ihn ein. Zwei Wochen später klingelt das Telefon. Simons Exfreund sagt, Raabs Firma überschreibt ihm den Produktionsvertrag. Da könnte er nicht nein sagen. Simon hat seinen Anwalt eingeschaltet, aber es gab eine Ausstiegsklausel. Da war nichts zu machen.“
    Sanne legt den Löffel fort und trinkt den Kaffee mit einem Schluck aus.
    „Eiskalt“, sagt sie.
    „Und was macht Simon jetzt?“, frage ich.
    „Natürlich alles, was er nur kriegen kann. Studioregie bei Gameshows. Die werden in Köln produziert, aber er versucht, bei Elstner reinzukommen. Dann könnte er nach Baden-Baden.“
    Sie drückt eine halb aufgerauchte Zigarette aus. „Ich muss jetzt rein und mit Mario sprechen.“
    „Was ist das für ein Konzert?“
    „Für Frank. Den Architekten. Als wir das Haus bauten, hatte ich viel mit seinem Büro zu tun. Die machen immer
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