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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Autoren: Philipp Jessen
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auch nicht. Aber das spielt keine Rolle. Eine Rolle spielt, dass Nils meine Worte für bare Münze nimmt. Er sieht mich schon die Kampagne kreieren, die ihm beim Art Directors Club die Goldmedaille beschert. Der Würfel ist gefallen. Die Texterin auf dem Oilily-Etat kann sich nach einem neuen Job umsehen.
    „Dann sollten wir mal über dein Gehalt sprechen“, sagt Nils. „Was stellst du dir denn vor?“
    Agenturen wie Euro-Team müssen richtig Geld hinlegen, um jemanden wie mich in die Provinz zu locken.
    „Achttausend“, sage ich.
    Nils schluckt. Ich weiß, das ist mehr, als er selbst bekommt.
    Am Ende landen wir bei sechstausend, dafür hab ich einen Geschäftswagen rausgehandelt. Einen 3er BMW. Ich könnte zufrieden sein. Aber ich bin es nicht. Ich habe keine Ahnung, warum nicht.
    Calvin wohnt in einer Zweizimmerwohnung im Heusteigviertel. Als Eventmanager trägt er nicht das große Geld nach Hause, knapp viertausend. Doch als DINKS – double income, no kids – können wir uns trotzdem etwas Ordentliches leisten. Ich habe einen Immobilienmenschen an der Strippe, der ein gutes Geschäft wittert.
    „180 Quadratmeter Penthousewohnung in einem Mehrgenerationenhaus“, sagt er. Ich lege auf. Mit Sicherheit ziehe ich nicht mit Rentnern und Kleinkindern unter ein Dach.
    Der Nächste hat etwas in einem neuen Wohnviertel, das die Stadt für einkommensstarke Jungfamilien erschlossen hat. Genauso sagt er es: einkommensstarke Jungfamilien. Für die, sagt er, tut man nämlich viel zu wenig. Überall schießen Sozialwohnungen aus dem Boden, während die besten Steuerzahler in die Röhre gucken. Im Stuttgarter Rathaus hat man das Problem erkannt.
    „Problem erkannt, Problem gebannt“, sagt er. Und: „Das Haus ist ein Notverkauf. 250 Quadratmeter Wohnfläche. Fußbodenheizung. Parkett. Bad von Hansgrohe.“
    Wir fahren hin und schauen uns das Haus an. Ein quadratischer Betonklotz, der mit bunten Plastikplatten geschmückt ist. Die glitzern in der Sonne wie Irrlichter.
    „Deutscher Architekturpreis“, sagt der Makler. „Doppelgarage. Terrasse. Feuerschutz durch Sprinkleranlage. Einbauküche von Alno.“
    Und eine einkommensstarke Jungfamilie, die sich verrechnet hat.
    Wir gehen rein. Eine Treppe schneidet das Haus in zwei Hälften und macht aus großen Räumen kleine Räume. Durch den Beton wirkt es wie ein Rohbau. Die Terrasse weist nach Norden. Die Nachbarn sind auf Spuckweite. Calvin schüttelt den Kopf. Er kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Architekten Häuser bauen, die wohnuntauglich sind, und dafür auch noch Preise bekommen.
    „Lass uns gehen“, sagt er.
    Ich frage den Makler: „Was soll das Haus denn kosten?“
    „Wie gesagt, Notverkauf, Schnäppchenpreis.“
    „Wie viel?“
    „490.“
    Ich gehe mit Calvin zur Tür.
    „Aber man kann darüber reden“, sagt der Makler.
    „So?“, sage ich. „Kann man?“
    Zwei Wochen später ziehen wir ein. Das war der Deal: Ich komme nach Stuttgart. Dafür entscheide ich, wo wir wohnen. Trotzdem gabʼs ellenlange Diskussionen.
    „Warum gerade dieses Haus?“, fragt Calvin x-mal. „Als ob es kein anderes gibt. Wir haben doch Zeit. Wir können weitersuchen.“
    Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Ich habe auch keine Antwort, warum ich Calvin geheiratet habe. Warum ich nach Stuttgart komme. Weshalb ich für Euro-Team arbeite. Weshalb ich keine Kinder kriege.
    „Im Westen gibt es tolle Altbauwohnungen“, mault Calvin. „Ein Kollege hat 300 Quadratmeter auf zwei Stockwerken mit Blick über die ganze Stadt. Für die Hälfte von dem, was wir zahlen.“
    Ich habe den Preis runtergehandelt. Aber 370.000 sind immer noch viel Geld.
    Hier ist die Kalkulation: Zusammen verdienen Calvin und ich 10.000 im Monat. Die Hälfte geht weg fürs tägliche Leben. Was man halt so braucht. Bleiben fünf. Nochmals 50 Prozent davon verschwinden für Versicherungen, Privatrente, Altersversorgung, Auto, denn Calvin hat keinen Firmenwagen. Bleiben 2500. Damit zahlen wir das Haus ab. Zu den 370.000 kamen 3 Prozent Maklergebühr plus Mehrwertsteuer vom Kaufwert und 3,5 Prozent Grunderwerbssteuer sowie Notarkosten. Macht mit Bankzinsen 400.000 Euro. Wenn alles gutgeht, gehört das Haus in 14 Jahren uns. In dem Jahr, in dem wir Elfenbeinhochzeit feiern.
    Das ist, was ich zu Calvin sage.
    „Was, wenn einer von uns den Job verliert?“ Calvin denkt an die einkommensstarke Jungfamilie, die sich verrechnet hat.
    Um ihn zu überzeugen, muss ich eine Wahrheit erfinden, an die ich selbst
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