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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Autoren: Philipp Jessen
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Jazzkonzerte für ihre Kunden. Die organisiere ich jetzt.“
    Sie steht auf.
    „Irgendwie“, sagt Sanne, „fühle ich mich eingeladen.“
    „Ist schon okay“, sage ich. „Ich melde mich wieder.“
    Sanne sieht mich an, als hätte ich sie bedroht.
    Sie geht, ohne sich umzudrehen.
    Als ich am Abend nach Hause komme, ist Calvin schon da. Er sitzt vor dem Fernseher, dreht sich nicht einmal um. Da muss ich nicht lange überlegen. Da weiß ich, was die Glocke geschlagen hat. Ich gehe in die Küche, öffne eine Dose Ochsenschwanzsuppe. Die habe ich bei Feinkost Böhm gekauft. Frank sagte, die Ochsenschwanzsuppe vom Böhm kann er guten Gewissens empfehlen.
    Das war im Hotel Mercur in Vaihingen. Das Zimmer hatte die Nummer 612 und kostete 145 Euro die Nacht. Wenn man zum Fenster rausschaute, sah man auf den S-Bahnhof.
    Die Alno-Küche in unserem Haus, die hat Frank nach eigenen Vorstellungen geplant. Er sagte, Sanne und Simon waren gegen eine so große Küche. Erstens kann Sanne nicht kochen, zweitens waren das noch mal 15.000 Euro mehr. So eine Alno-Küche ist für Friday-Night-Delight-Suppers gedacht und nicht dafür, einen Teller Suppe aufzuwärmen.
    Doch dafür kann man sie auch gebrauchen.
    Ich sitze in der Küche und esse aufgewärmte Suppe.
    Calvin sitzt im Wohnzimmer und schaut Fernsehen. Er sieht sich die Galaxy-Show an, und durch die offene Tür höre ich die Stimme von Ulrike. In der Galaxy-Show müssen Kandidaten beweisen, dass sie etwas vom Wetter verstehen. Ulrike stellt Fragen wie: Welches ist der kälteste Ort Deutschlands? A: Die Zugspitze. B: Stetten am kalten Markt. C: Heiligendamm. Es gibt Punkte, wenn man die richtige Antwort weiß. Wer am Ende die meisten Punkte hat, wird zum Wetterkönig gekrönt. Oder zur Wetterkönigin. Ulrike sagt, die Quote sinkt von Woche zu Woche. Sie glaubt nicht, dass sie am Ende des Jahres noch Galaxy-Show-Moderatorin ist.
    Dann geht der Fernseher aus, und Calvin kommt in die Küche.
    „Es ist noch Suppe da“, sage ich. „Willst du?“
    „Keinen Hunger“, sagt er. Er geht zum Kühlschrank und holt einen Wein raus. Einen Sauvignon blanc Burlwood aus Kalifornien von Aldi. Mittlerweile kostet er 3,39 Euro, aber Frank sagte, das ist immer noch okay.
    Das sagte er im Hotel Favorite in Zuffenhausen. Das Zimmer hatte die Nummer 14 und kostete 85 Euro die Nacht. Wenn man zum Fenster rausschaute, sah man auf den Werkseingang von Porsche.
    Calvin gießt zwei Gläser voll, gibt mir eines. Dann sagt er: „Ich bin heute rausgeflogen.“
    Seit vier Monaten schuftet Calvin wie ein Galeerensklave. Der Kunde ist die größte Bausparkasse Deutschlands. Umsatz: 600 Millionen Euro. Fast die Hälfte davon kommt vom sogenannten Top-Hundert-Club. Darin sind die 100 besten Verkäufer der Bausparkasse organisiert. Sie haben große Agenturen. Sie sind alle Millionäre. Die Bausparkasse kriecht ihnen in den Hintern, damit sie nicht zur Konkurrenz wechseln. Deshalb schmeißt die Bausparkasse jährlich eine Riesensause.
    Die Bausparkasse nennt das einen Motivationsevent.
    Für Calvins Arbeitgeber ist die Organisation vom Top-Hundert-Motivationsevent der dickste Fisch. Da muss alles stimmen. Dieses Jahr bringen sie die Top-Hundert-Leute nach Monte Carlo zum Formel-1-Rennen, inklusive Besuch im Fahrerlager. Danach wartet ein Viermastschoner im Hafen, der sie samt Ehefrauen oder Freundinnen nach St. Remo segelt. Dort gibtʼs ein Konzert mit den Zehn Tenören, und Harald Wohlfahrt kocht was Feines. Am nächsten Tag gehtʼs in einer Oldtimer-Karawane nach Monaco. Im Spielcasino bekommt jeder einen 1000-Euro-Chip, und alle Getränke sind frei. Zum Abschluss erhalten die Top-Hundert-Leute einen Film auf DVD. Für den Motivationsevent lässt die Bausparkasse zwei Millionen Euro springen. Seit Wochen höre ich von Calvin nichts anderes als Top-100 vorne und Top-100 hinten.
    Seit Wochen arbeitet er 16 Stunden am Tag, Wochenenden inklusive.
    Letzten Freitag war Calvin in Monte Carlo, St. Remo und Monaco. Ich war mit Frank im Zimmer 123 vom Hotel Favorite in Ludwigsburg. Als ich zum Fenster rausschaute, konnte ich die Stadtautobahn sehen.
    Montagnacht kam Calvin zurück. Er schlief vier Stunden lang, dann ging er ins Büro. Ich komme nach Hause, und er sitzt vor dem Fernseher.
    Jetzt hält er sein Glas in der Hand und betrachtet es von allen Seiten, als läge darin die Wahrheit.
    „Pit hat heute Morgen die Top-100-Gruppe zusammengetrommelt“, sagt er. „Er hielt eine Rede, wie super wir an einem Strang
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