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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Autoren: Philipp Jessen
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Preis inbegriffen. Die Getränke bekommt man an der Bar. Davon gibt es zwei im Mediterraneo: eine im Hotel, eine am Pool.
    „Sie sind bis ein Uhr nachts offen“, sage ich. „Getränke mit aufs Zimmer zu nehmen, ist verboten.“
    Es sind typische All-inclusive-Regeln. Ob in Spanien, der Türkei, Italien, Griechenland, auf den Kanaren oder Mallorca: Die Regeln sind immer dieselben.
    „Wie ist der Wein?“, frage ich.
    „So lala“, sagt Gesine.
    „Trinkbar“, sagt Simon.
    Wer es drauf anlegt, kann von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts saufen.
    Es gibt viele, die es drauf anlegen.
    „Ein Wassertaxi“, sagt Sanne. „Würde ich gern mal ausprobieren.“
    Hier ist die Kalkulation: Für eine Person zahlt man all inclusive 300 Euro die Woche. 150 zahlt man für sechs Tage Verlängerung. Der Flug ist mit drin. Für 450 Euro kann man also zwei Wochen unter Palmen leben, wird von vorne und hinten bedient und muss keinen Finger krumm machen. Neben Essen und Trinken, so viel wie reinpasst, gibtʼs nette Freizeitaktivitäten. Boccia ist dabei. Beachvolleyball ist dabei. Irgendwo steht immer ein Kicker, manchmal sogar ein Billardtisch. Im Mediterraneo soll es einen Flipper geben, gefunden habe ich ihn noch nicht. Dafür dürfen die Gäste einmal pro Woche eine halbe Stunde umsonst Wasserski laufen.
    450 Euro für zwei Wochen macht 900 Euro im Monat macht 10.800 Euro im Jahr. Dazu kommen Ausgaben wie ab und zu einen neuen Bikini. Ein Strandkleid. Sonnencreme. Alles in allem komme ich mit jährlich 12.000 Euro über die Runden. Das Leben unter Palmen ist günstiger als das Leben zu Hause. 12.000 Euro sind weniger als Deutschlands gesetzliche Armutsgrenze.
    Ich reiche Sanne die Regeln. Sie ist nicht interessiert. Sie würde gern Wassertaxi fahren, aber dafür müsste man das Hotel verlassen. Das Hotel zu verlassen ist anstrengend. Sanne fragt Simon, ob er ihr ein Bier holt.
    Simon gähnt. „Geht gerade nicht“, sagt er. „Hol es dir selbst.“
    Sanne steht auf. „Muss ohnehin Pipi“, sagt sie.
    Sie schwankt, als sie über den heißen Strand läuft. Ich notiere im Kopf meinen ersten Eintrag im Buch „Gäste-Kommentare“, welches in allen All-inclusive-Hotels ausliegt: Die Bar ist zu weit vom Strand entfernt. Dann streiche ich den Satz wieder. Die Bar ist zwar weit vom Strand entfernt, dafür sind es aber auch die Säufer. In allen All-inclusive-Hotels trifft man auf diese Leute, die sich nicht weiter als zwanzig Meter vom Zapfhahn fortbewegen.
    Man trifft auf Leute, die sich ihren Liegestuhl morgens um sechs Uhr mit einem Handtuch reservieren.
    Man trifft auf Leute, die im Speisesaal immer am selben Tisch sitzen.
    Man trifft eine, zwei, drei oder vier Wochen lang Leute, die einen bei jeder Begegnung mit den immer gleichen Worten grüßen.
    „Mahlzeit“, sagen sie.
    „Alles klar?“, sagen sie.
    „Das Wetter wird schlecht“, sagen sie. „Die ganze nächste Woche.“
    Diese Leute sprechen deutsch. Einige sprechen deutsch mit russischem Akzent. Einige deutsch mit österreichischem Akzent. Manche sprechen Englisch. Bis aufs Personal trifft man keine Einheimischen.
    Die Einheimischen sprechen ebenfalls deutsch.
    „Bring mir ein Bier mit!“, ruft Simon hinter Sanne her.
    Ich nehme die Liste und lese sie nochmals durch. Nein, ich habe nichts übersehen.
    Ich habe alles unter Kontrolle.
    Ich schaue auf und sehe, wie Calvin und Reinhold ihre Wasserski abschnallen. Reinhold legt einen Arm um Calvins Schulter. Simon fragt: „Wann gibtʼs Mittagessen? Du weißt das doch bestimmt.“
    Simon und Sanne
    Frank gibt mir die Telefonnummer. Einige Wochen trage ich sie mit mir herum, dann rufe ich an. Beim dritten Versuch erreiche ich jemanden. Es ist eine Frau.
    „Hallo“, sagt die Frau. „Wer sind Sie?“
    Ich sage, mein Name ist Antonie.
    Ich sage, ich wohne in einem Haus aus Beton. Es ist quadratisch und mit bunten Plastikplatten geschmückt.
    „Wenn die Sonne scheint, glitzern die“, sage ich.
    Die Frau am Ende der Leitung hängt auf.
    Ich warte ein paar Tage, dann rufe ich wieder an.
    „Können wir uns treffen?“, frage ich.
    „Ich wüsste nicht, warum“, sagt die Frau. Und legt wieder auf. Ich wähle erneut.
    Penetrant sein ist die Lösung.
    „Was wollen Sie?“, fragt die Frau.
    „Just for fun“, sage ich. „Nur einen Kaffee trinken.“
    So lerne ich Sanne kennen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag im Café Planie. Sie sagt, sie ist ohnehin dort. Wegen des Jazzkonzerts. Sanne ist freischaffende
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