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Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Einarmig unter Blinden - Roman: Roman

Titel: Einarmig unter Blinden - Roman: Roman
Autoren: Philipp Jessen
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Haider in eine Buchhandlung und sagt: Hallo, ich hätte gerne von Erich Kästner ›Das fliegende Klassenzimmer‹. Sagt der Verkäufer: Soll ich es einpacken oder wollen Sie es gleich hier verbrennen? Bei »gleich hier« würde SIE! spätestens anfangen selbst zu lachen. Wie immer.
    Ich könnte ihr beim Baden zusehen. Oder SIE! einfach nur anschauen und wieder einmal feststellen, wie bezauberndwunderschön SIE! ist.
    SIE! ist eine Ganz-oft-Hinguck-Schönheit. Beim ersten Kennenlernen fällt SIE! einem als äußerst attraktiv auf. Ihr ebenes, irgendwie schwedisches Gesicht. Die lockigen, hellbraunen Haare. Ihr prinzessinnenhafter Mund. Und bei jedem erneuten Hinschauen entdeckt man trotzdem noch etwas Neues, nicht Schöneres, sondern genauso Wundervolles an ihr. Es ist wie bei Sisyphos, nur nicht mit einem Felsbrocken, sondern mit unendlich vielen bezaubernden Schönheitsdetails.
    SIE! hat eine kleine Haarsträhne im Nacken, die ein bisschen heller ist als ihr restliches Haar.
    Über ihrer rechten Braue ist eine kleine Narbe.
    Ihre Augenfarbe richtet sich nach dem Wetter. Sind sie morgens blaugrau, wird es regnen, haben sie einen Grünstich, wird es sonnig.
    Je öfter man SIE! ansieht, desto schöner wird SIE! – das trifft wirklich nicht auf viele Menschen zu.
    Wenn wir ausgehen, merke ich, wie Jungs und Männer SIE! anstarren, danach aber ganz schnell wegblicken und sich umschauen. Als ob sie etwas Verbotenes getan haben oder glauben würden, dass nur sie fähig wären, ihre Schönheit zu erkennen. Sie benehmen sich, als ob sie ein Geheimnis bewahren müssten.
    Ich will nicht schlafen. Sonntag läuft nichts in der Glotze, und Hunger habe ich auch nicht. Ich schalte meinen Computer an. Rufe das Internet auf.
    Ist Ihr Partner treu? Liebt er Sie wirklich? Machen Sie den Test, gleich hier im Netz! steht in einem kleinen Fenster, das sich auf der AOL-Startseite geöffnet hat. Über dem Text pulsiert ein rotes Herz mit einem schwarzen Fragezeichen in der Mitte.
    Eigentlich heißt es doch: Love is the answer. Aber wenn Liebe die Antwort ist, warum wirft sie dann so verdammt viele Fragen auf? Und ganz nebenbei, wenn die Liebe doch mal antwortet, dann nur in Form eines rosa Schwamms und auf Fragen, die sie selbst gestellt hat.
    Ich lehne mich zurück, und obwohl ich beschlossen hatte, erst Montag wieder damit anzufangen, beginne ich zu denken: Warum liebt man überhaupt? Warum liebe ich SIE!? Ist es ihre Walt-Disney-Mimik? Weil SIE! mit Kindern und Tieren so süß umgeht? Weil die Chemie stimmt? Weil SIE! mein bester Freund ist? Weil ich mit ihr in das teuerste Restaurant der Stadt und in eine Dönerbude gehen kann? Weil SIE! am ganzen Körper gezittert hat, als SIE! mir sagte, dass SIE! in mich verliebt sei? Ist es, weil SIE! so warm strahlt, dass Fremde ihr sofort alle Probleme erzählen?
    Oder verliebt man sich in einen geilen Arsch? Oder einen brillanten Gedanken?
    Ich glaube, entscheidend ist: Bei irgendjemandem fühlt man sich einfach zu Hause.
    Tuuut. »Hey, Kleine, ich wollte auch noch mal deine Stimme hören. Bis morgen.« Klick.

Vier:
Streit
    Es ist Samstagabend. Aber ich fühle mich wie Montagmorgen. Wir haben uns gestritten.
    Ich fahre durch die Innenstadt und weiß nicht, wohin mit mir. In meinem Auto riecht es nach trockener Heizungsluft und sauren Gurken. Ich habe mir bei McDonald’s etwas zu essen geholt. Ich pule immer die Gurken von den Burgern. Während der Fahrt ist mir dann eine runtergefallen. Genau in die Ritze zwischen Handbremse und Beifahrersitz. Ich versuchte erst gar nicht, sie da rauszuholen. Im Radio wird nur Bon Jovi gespielt und alle Ampeln kennen ausschließlich die Farbe Rot. Seit fünf Minuten warte ich auf Grün. Seltsamerweise steht auch die Fußgängerampel die ganze Zeit auf Rot. Ein Obdachloser wartet auf der rechten Straßenseite. Sein Gesicht sieht wie das unaufgeräumte Zimmer eines Alkoholiker-Kindes aus. Auf sein zerfetztes Jackett hat er sich Aufkleber geklebt, in drei geraden Reihen, wie Orden auf amerikanischen Uniformen. Er kämmt sich die Haare. Als die Fußgängerampel auf Grün springt, lächelt er, dreht sich um und geht in die andere Richtung.
    Der Abend fing eigentlich ganz gut an.
    Andy, ein Freund, hatte seinen Fernseher in den Garten gestellt. Wir guckten Champions League und grillten dabei. Über Andy kann man nicht viel sagen: Er hat so viele Mitesser im Gesicht, dass es aussieht, als hätte er einen Dreitagebart. Das Wildeste an Andy ist, dass er seinen
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