Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire
Autoren: Harold Cobert
Vom Netzwerk:
Enkeltochter hinab. »Willst du Großpapa nicht begrüßen?«
    Claire geht zu ihm und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, tut dann das Gleiche bei ihrer Großmutter.
    »Haben Sie mit Sandrine telefoniert?«
    »Aber natürlich, jeden Tag«, antwortet Marie. »Natürlich …«
    Er wendet sich an Claire.
    »Hat Mama dir gesagt, dass ich jeden Abend angerufen habe, zu Hause und auf ihrem Handy?«
    Sie schüttelt den Kopf, lächelt ihren Vater dabei dennoch an.
    »Bestimmt hat sie vergessen, dieses kleine Detail zu erwähnen«, pariert Jean-Paul in aufgesetzt liebenswürdigem Ton. »In den Ferien vergisst man ja vieles, vor allem Dinge, die einem unangenehm sind …«
    »Wann kommt sie zurück?«
    »Sonntag!«, verkündet Claire mit lauter Stimme.
    Die drei Erwachsenen sehen sich schweigend an.
    »So, Claire«, ergreift Marie schließlich das Wort. »Jetzt sagst du Philippe auf Wiedersehen, und dann fahren wir nach Hause, ja?«
    Claire geht zu ihrem Vater, der sie in die Arme schließt, sie an sich drückt und küsst.
    »Denk immer daran, dass ich dich lieb habe, meine kleine Prinzessin.«
    »Ich hab dich auch lieb, Papa …«
    »Los, los«, unterbricht Jean-Paul die beiden. »Großmama hat zu Hause Crêpes für dich gemacht …«
    Philippe trennt sich von seiner Tochter, die nach der Hand ihrer Großmutter greift. Mit einer verkniffenen Kinnbewegung verabschiedet sich Marie von ihrem Ex-Schwiegersohn und zieht ihre Enkelin hinter sich her. Claire dreht sich um. Philippe lächelt und schickt ihr einen Luftkuss. Dann will er Jean-Paul die Hand geben, doch der wendet sich ab, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Fassadenlächeln
    Montagnachmittag. Philippe gibt dem Makler seine Unterlagen. Der schlägt die Mappe auf und überfliegt alles, um sicherzugehen, dass nichts fehlt.
    Das vergangene Wochenende war noch schlimmer als das vorherige. Dem Vorschlag, mit Jérôme, seiner Frau Gaëlla und ihrem fünfjährigen Sohn Victor ins Kino zu gehen, hat er schließlich zugestimmt, die anschließende Einladung zum Abendessen jedoch abgelehnt. Er habe noch eine Menge Arbeit, dringende Sachen. Abgesehen von diesem Treffen und dem Termin für eine 25-m 2 -Wohnung, der am Freitagnachmittag stattgefunden hat, ist nichts Bemerkenswertes passiert. Weder gute noch schlechte Nachrichten. Nichts.
    »Keine Bürgschaft seitens der Eltern?«
    »Ich bin siebenundzwanzig …«
    Der Immobilienmakler kreuzt auf einem Formular ein Kästchen an. Das verkrampfte Lächeln, das er Philippe dabei zukommen lässt, ist nichts als Fassade. Obwohl sie leise sprechen, hallen ihre Stimmen durch das leere Appartement.
    »Und auch keinen unbefristeten Arbeitsvertrag?«
    »Es ist mein zweiter Zeitvertrag im selben Unternehmen …«
    Wieder das kommentarlose Schaufensterlächeln.
    »Und es sieht alles danach aus, als würde er wieder verlängert …«
    Philippes Handy klingelt. Mit hastigen, fahrigen Bewegungen fummelt er es aus der Innentasche seiner Jacke und wirft einen Blick auf den Bildschirm: eine Nummer, die er nicht kennt.
    »Und Sie verdienen … den Mindestlohn …«
    »Plus Zulagen …«
    Philippe schaltet sein Handy aus und schiebt es wieder in die Tasche. In der Stille des Raums ist nur das Rascheln der Papierseiten zu hören, die der Makler umblättert: Fotokopie des Personalausweises, Steuerbescheid, Kontoauszüge, Arbeitsbescheinigung, eidesstattliche Erklärung …
    »Was glauben Sie, wann ich eine Antwort bekomme?« »Wir werden dem Besitzer Ihre Unterlagen zusammen mit denen der anderen zukommen lassen, die Entscheidung liegt dann letztlich bei ihm.«
    »Glauben Sie, dass es klappen wird? Ich meine …«
    »Normalerweise will er, dass das Gehalt drei- bis viermal so hoch ist wie die Miete. Ihr Gehalt ist ungefähr anderthalb, na ja, fast zweimal so hoch wie die Miete … Eine elterliche Bürgschaft wäre da natürlich ganz klar ein Pluspunkt, aber …«
    Er führt seinen Satz nicht zu Ende.
    »Aber?«
    »Wer weiß?«
    Wieder das Kulissenlächeln, gefolgt von einer Geste, die nichts anderes als »Dann begleite ich Sie zur Tür« sagen will.
    Beim Verlassen des Aufzugs begegnet Philippe einem jungen Paar mit einer dicken Mappe unter dem Arm. Während er den Eingangsbereich durchquert, hört er, wie dieFrau ihren Begleiter fragt: »Hast du auch den Steuerbescheid meiner Eltern dabei?«
    »Ja.«
    »Und den Brief mit ihrer Bürgschaft?«
    »Ja, ja, ich hab alles.«
    Philippe öffnet die Haustür und geht, nachdem er sich eine Zigarette angezündet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher