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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire
Autoren: Harold Cobert
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vier Buchstaben, die das Wort »Mama« bilden. Philippe seufzt, sieht sich um, wiegt das Telefon zögernd in der Hand. Seine Eltern leben noch im Umland von Le Havre, wo auch er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Seit seinem Umzug zum Studium nach Paris, den der Vater damals zutiefst missbilligte und ihm jede finanzielle Unterstützung versagte, hat Philippe in der Hauptsache zur Mutter Kontakt gehalten. Während der beiden Studienjahre ihres Sohns hatte sie sich jeden Tag heimlich etwas vom Haushaltsgeld abgezwackt, um ihm zum Monatsende wenigstens einen kleinen Betrag schicken zu können.
    Die vier Buchstaben leuchten noch immer. Schließlich nimmt er den Anruf an.
    »Mama …«
    »Wie geht es dir, mein Kind? Ich habe gar nichts mehr von dir gehört, ich habe mir Sorgen gemacht …«
    »Mama, wir haben doch letzten Samstag erst telefoniert …«
    »Du hörst dich bedrückt an, hast du irgendwas?«
    »Nein, alles in Ordnung …«
    »Ich kenne dich: Wenn du mich nicht anrufst, dann ist irgendetwas nicht in Ordnung …«
    »Nein, Mama, wirklich nicht, es geht mir gut …«
    »Keine Geldsorgen?«
    »Nein …«
    »Du würdest es mir doch sagen, oder?«
    »Ja, mach dir keine unnötigen Gedanken.«
    »Versprochen?«
    »Ja, ja, ja!«
    »Gut … Und die Kleine?«
    »Ich glaube, gut.«
    »Wieso glaubst du?«
    »Ich habe bis eben gearbeitet und nicht mehr mit ihr telefoniert.«
    »Bist du denn nicht zu Hause?«
    »Nein, ich bin im Außendienst unterwegs, in der Provinz.«
    »Wo denn?«
    »Im Süden, in der Nähe von Lyon.«
    »Hast du schönes Wetter?«
    »Mja …«
    »Ach ja? Im Wetterbericht hat es geheißen, es würde dort regnen …«
    »Und du, wie geht’s dir?«
    Worauf Philippes Mutter nach kurzem Zögern beginnt, die Stationen ihres Alltag zu schildern: der Haushalt, die manchmal kränkenden Chefs, ihre Darmprobleme, ihre Gelenkschmerzen, ihr nachlassende Sehkraft, das Leben, das zu teuer ist, der Streit in der Nachbarschaft.
    »Und Papa?«
    Die gleiche Leier: die Schiffswerften, der Cholesterinspiegel, die Bandscheibenvorfälle, die Gesundheit, die schon vor der Rente ruiniert ist. Und zum guten Schluss die immerwährende Frage:
    »Kommst du uns bald mal mit der Kleinen besuchen?«
    »Ich weiß nicht, Mama, ich muss im Moment sehr viel arbeiten.«

    »Oder liegt es daran, dass deine Frau uns nicht mag?«
    »Mama, fang jetzt nicht damit an!«
    »Aber es stimmt doch! Wir waren ihr und ihren Eltern doch von Anfang an nicht gut genug!«
    »Mama, hör bitte auf! Nicht heute Abend.«
    Philippes Abwehr und sein gereizter Ton lenken das Gespräch rasch in eine andere Richtung. Die Mutter monologisiert noch zehn Minuten weiter, bis Philippe das Gespräch abrupt unterbricht: »So, Mama, ich muss jetzt aufhören. Hier liegen noch mehrere Akten, die ich bis morgen früh bearbeiten muss.«
    »Pass auf dich auf. Und lass von dir hören.«
    »Ja. Grüß Papa von mir.«
    Er legt auf und hört sofort seine Mailbox ab. Kein Anruf in Abwesenheit und erst recht keine Nachricht. Er versucht es ein letztes Mal auf Sandrines Handy. Vergeblich.
    Draußen ist es Nacht.

Schulschluss
    Am nächsten Tag, Freitag, 16 Uhr 45.
    In Begleitung ihrer drei besten Freundinnen tritt Claire durchs Schultor auf den Bürgersteig. Die vier Mädchen führen ein lebhaftes Gespräch. Den Schulranzen auf den Rücken geschnallt, zeigen sie tuschelnd mit dem Finger auf andere Schüler und lachen hinter vorgehaltener Hand.
    Als Claire der Blick ihres Vaters begegnet, breitet sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
    »Papa!«
    Sie läuft los und wirft sich in seine Arme.
    »Wie geht es meiner kleinen Prinzessin?«
    Zu seinen Füßen eine große Plastiktüte.
    »Was ist das?«
    Er zieht einen dicken Stoffhund hervor. Seine Tochter nimmt ihn und drückt ihn an sich.
    »Kommst du nach Hause?«
    »Nein, Prinzessin. Ich bin nur für ein paar Stunden hier.«
    Claire zieht ein enttäuschtes Schnütchen.
    »Ist Mama nicht da?«
    »Sandrine ist für zwei Wochen auf die Malediven gefahren, in Urlaub.«
    Philippe dreht sich um, vor ihm steht Jean-Paul, der Vater seiner Ex-Frau.
    »Nach allem, was sie durchgemacht hat«, fügt er hinzu, »ist das ja wohl ganz normal, oder?«
    Ein paar Meter hinter ihm die Ehefrau, Marie. Sie begrüßt Philippe mit einer distanzierten Kopfbewegung.
    »Hieß es nicht, Sie wären geschäftlich verreist?«, fragt sie ihn mit eisigem Lächeln.
    »Ich muss gleich wieder los.«
    »Großartig!«, bemerkt Jean-Paul und beugt sich zu seiner
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