Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein unbezaehmbarer Verfuehrer

Titel: Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Autoren: Elizabeth Hoyt
Vom Netzwerk:
hoheitsvoll zu. Der Mann war mit Abstand der griesgrämigste Kutscher, den sie auf dieser ohnehin unerfreulichen Reise gehabt hatten. „Wenn Sie bitte unser Gepäck abladen würden."
    Da schnaubte er bloß. „Schon erledigt. War ja nicht viel."
    „Kommt, Kinder!", sagte Helen und hoffte, vor dem grässlichen Mann nicht auch noch zu erröten. Tatsächlich bestand ihr Gepäck nur aus zwei leichten Reisetaschen — eine für sie und eine für die Kinder. Dem Kutscher mussten sie erbärmlich vorkommen. Und hatte er damit nicht recht, in gewisser Weise?
    Doch nun war nicht die Zeit für derlei entmutigende Gedanken. Nun galt es, ihre Sinne beisammenzuhaben und all ihre Überzeugungskünste zum Einsatz zu bringen.
    Sie stieg aus und sah sich um. Hoch ragte das alte Gemäuer vor ihnen auf, wehrhaft und abweisend. Und sehr still — um nicht zu sagen: verlassen. Wieder ein Gedanke, den sie rasch verdrängen musste. Das Hauptgebäude war ein rechteckiger, gedrungener Bau aus rötlich schimmerndem, von Wind und Wetter verwittertem Gestein. An den Seiten ragten runde Türme empor. Eine Auffahrt führte hoch zur Burg. In besseren Zeiten mochte sie gekiest gewesen sein, doch Unkraut und Morast hatten sie längst zurückerobert. Vereinzelte Bäume, windschief und verwachsen, säumten den Weg und versuchten der unwirtlichen Witterung zu trotzen. In der Ferne zog sich Hügelland bis zum dunkler werdenden Horizont.
    „Alles in Ordnung?" Der Kutscher schwang sich auf den Bock, ohne sich noch einmal umzusehen. „Ich bin weg."
    „Lassen Sie uns wenigstens eine Laterne da!", rief Helen, doch ihr Rufen ging im Lärm der davonrumpelnden Kutsche unter. Ungläubig starrte sie dem Wagen hinterher.
    „Alles ist dunkel", bemerkte Jamie mit Blick auf die Burg.
    „Mama, da brennt nirgends Licht! ", meinte nun auch Abigail. Sie klang verängstigt, und auch Helen ahnte nichts Gutes. Was, wenn niemand zu Hause war? Was sollten sie dann tun?
    Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Sie war hier die Erwachsene. Eine Mutter sollte ihren Kindern ein Gefühl der Sicherheit geben.
    Leichter gesagt als getan. Helen reckte das Kinn und lächelte Abigail zuliebe. „Wahrscheinlich brennt nur im hinteren Teil des Gebäudes Licht. Deshalb können wir es von hier aus nicht sehen."
    Sonderlich überzeugend wirkte diese Vermutung nicht auf Abigail, doch sie nickte tapfer. Helen nahm die beiden Taschen und stieg die ausgetretenen Steinstufen hinauf zu der riesigen zweiflügeligen Holztür, die in einen Spitzbogen eingelassen war. Die Scharniere und Beschläge aus dunklem Eisen muteten mittelalterlich an. Helen hob den eisernen Ring.
    Fast verzweifelt hallte ihr Klopfen in der Stille der Burg wider. Da standen sie nun, und Helen wollte einfach nicht glauben, dass ihnen niemand öffnen würde. Kalt fuhr ihr der Wind unter die Röcke, sodass sie sich bauschten. Sie strich sie wieder glatt. Jamie stieß mit den Stiefelspitzen gegen die Stufen, und Abigail seufzte so leise, dass es fast keiner mitbekam. Fast.
    Helen presste die Lippen zusammen. „Nun, vielleicht hören sie uns nicht, weil sie sich in einem der Türme aufhalten."
    Sie klopfte erneut.
    Mittlerweile war es tiefdunkel. Die Sonne war untergegangen und hatte alle Wärme des Tages mit sich genommen, soweit man überhaupt von Wärme sprechen konnte. Sie hatten Hochsommer, und in London war es zu dieser Jahreszeit ziemlich heiß, doch auf ihrer Reise hatte Helen feststellen müssen, dass es in Schottland auch in den Sommernächten empfindlich kalt werden konnte. Weit hinten am Horizont zuckte ein Blitz. Welch ein unwirtlicher Ort das doch war! Wie man freiwillig hier leben konnte, war ihr unerklärlich.
    „Da kommt keiner", sagte Abigail, als fern der Donner grollte. „Sieht so aus, als wäre niemand da."
    Helen schluckte, als sie die ersten Regentropfen in ihrem Gesicht spürte. Das letzte Dorf, das sie unterwegs passiert hatten, lag gut zehn Meilen zurück. Sie musste irgendeine Unterkunft für die Nacht finden. Denn Abigail hatte recht: Es war niemand da. Sie hatte sich verrannt — mal wieder —, hatte die Kinder mitgenommen auf diese aberwitzige Reise, ohne die möglichen Folgen zu bedenken.
    Wieder mal hatte sie die beiden im Stich gelassen.
    Helens Lippen begannen zu zittern. Nein, nur nicht vor den Kindern weinen .
    „Vielleicht gibt es ja eine Scheune, in der wir ... ", begann sie, als eine der beiden Türen so unvermittelt aufgerissen wurde, dass Helen erschrocken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher