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Ein Traum in roter Seide

Ein Traum in roter Seide

Titel: Ein Traum in roter Seide
Autoren: Miranda Lee
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Wänden haben Aussagekraft. Sie hängen nicht einfach nur da, weil sie farblich zu der Einrichtung passen. Außerdem sind die Möbel schlicht und bequem, sie täuschen nichts vor und wirken so geradlinig wie du."
    Zweifellos war es ein Kompliment. Aber warum konnte sie sich nicht charmant dafür bedanken? Warum versuchte sie, einen gönnerhaften oder herablassenden Unterton in Tylers Stimme zu entdecken? Und warum wollte sie sich einreden, die Bezeichnung geradlinig bedeute langweilig und uninteressant?
    Michelle zog es vor, zu schweigen. Sie lächelte nur leicht angespannt und drehte sich um. Seit sie hereingekommen waren, hat te sie ihn ununterbrochen beobachtet.
    Das tat sie seltsamerweise immer, wenn sie in seiner Nähe war. Jedes Mal betrachtete sie ihn genau und verfolgte jede seiner Bewegungen.
    Nichts entging ihr, weder sein Lachen noch sein Lächeln, auch nicht, wie er jeden Raum zu dominieren schien.
    Dann gestand sie sich ein, dass auch alle anderen Frauen ihn fasziniert beobachteten. Sogar Kevin war ihm damals auf der Universität überallhin gefolgt wie ein Hündchen und hatte ihm brav zugehört wie ein Schüler seinem Lehrer.
    Genau das hatte Michelle immer gehasst. Auch wenn Kevin im Lauf der Jahre selbstbewusster geworden war, gefiel es ihr nicht, welche Macht Tyler über ihn und andere Menschen hatte. Und dass er auf seine arrogante Art, deren er sich wahrscheinlich nicht bewusst war, 13
    erwartete, alle müssten nach seiner Pfeife tanzen, gefiel ihr auch nicht.
    Sie ging in die Küche und legte die Umhängetasche auf die Arbeitsplatte. Erst jetzt erinnerte sie sich wieder an den völlig zerknüllten Brief in ihrer Hand. Rasch riss sie das Kuvert auf und las die Einladung.
    Du liebe Zeit, die Trauung soll in der Kirche stattfinden, wie scheinheilig, dachte Michelle empört. Kevin hatte in seinem ganzen Leben noch keine Kirche betreten, zumindest nicht, seit sie ihn kannte. Was war er doch für ein gefühlloser, unsensibler, ehrloser Kerl!
    Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und sie warf die Einladung in den Abfalleimer. Zehn Jahre ihres Lebens hatte sie ein fach verschwendet.
    Verzweifelt sehnte sie sich danach, sich auszuweinen. Aber das konnte sie nicht, solange Tyler in ihrem Wohnzimmer saß. Wahrscheinlich sagte er sich jetzt selbstgefällig, dass er sie vor Kevin gewarnt hatte. Das stimmte auch. Er hatte immer erklärt, Kevin habe einen schwachen Charakter und würde ihr nie das geben, was sie sich wünschte. Sie befürchtete, Tyler würde sie an seine Warnungen erinnern.
    Rasch wischte sie die Tränen mit der Hand weg und ließ Wasser in den elektrischen Kocher laufen. „Ist Pulverkaffee okay für dich?" rief sie, die Zähne zusammengebissen.
    „Ja."
    „Du kannst den Fernseher anstellen, wenn du willst."
    „Nein, danke. Ich bin damit zufrieden, hier zu sitzen und mich zu entspannen."
    So ein verdammter Kerl, schoss es ihr durch den Kopf. Er saß seelenruhig da und konnte sich entspannen, während sie sich krampfhaft bemühte, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen.
    Und zu allem Überfluss machte sie Tyler auch noch Kaffee, obwohl sie ihn am liebsten aufgefordert hätte, sich zum Teufel zu scheren.
    Dann könnte sie sich wenigstens auf ihr breites Messingbett werfen und so lange weinen, wie sie wollte.
    Aber sie musste sich zusammennehmen. Sie nahm zwei Becher aus dem Schrank und gab Pulverkaffee hinein. Dann fügte sie für sich etwas Süßstoff hinzu, für Tyler jedoch drei gehäufte Teelöffel Zucker.
    14
    Es war kaum zu glauben, aber er liebte Süßes. Seine Vorliebe für Schokolade und Desserts war geradezu phänomenal. Michelle würde nie vergessen, wie er einmal in einer Vorlesung zwei glasierte Äpfel gegessen hatte mit der Behauptung, er könne Obst nur mit viel Zucker hinunterbekommen.
    Michelle hatte es irgendwie deprimierend gefunden, dass er trotz der vielen Torten und Schokoladenplätzchen kein Gramm zunahm. Kevin hatte auf sein Gewicht achten müssen und deshalb nie Kuchen und dergleichen gegessen. Auch den Kaffee trank er schwarz. Während ihrer gemeinsamen Zeit hatte sie kalorienarm gekocht, weil ihr klar gewesen war, wie viel Wert er darauf legte, schlank zu bleiben.
    Plötzlich rollten ihr wieder Tränen über die Wangen, sie wusste selbst nicht genau, warum. Vielleicht deshalb, weil sie an Kevin gedacht und sich erinnert hatte, wie viel Mühe sie sich gege ben hatte, ihm alles recht zu machen? Jedenfalls schien auf einmal der Damm zu brechen, und die Tränen,
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