Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
Vom Netzwerk:
frei erfundenes Lied, das den Weg auf meine Lippen findet und summend ertönt. Ich spüre die Töne in meinem Mund und Hals vibrieren und hätte vor Überraschung fast laut aufgelacht.
    Die Frau auf dem Stuhl bewegt sich und sieht mich unwillkürlich an, noch ehe sie sich den Schlaf aus den Augen reibt.
    «Nell!» Sie ist in Windeseile bei mir, umhüllt mich mit ihrem großen Busen, und ich erkenne diesen dezenten Duft von Honigseife, der an ihr haftet. Es ist nur ein Nebelfetzen, die Erinnerung an eine Erinnerung, nicht greifbar, flüchtig, aber wärmend und besänftigend. «Ich bin deine Mutter», sagt die Frau. Sie löst sich von mir, ihre goldenen Armreifen klimpern. Sanft umfasst sie mein Gesicht, lässt ihre weichen Hände auf meinen Wangen ruhen, und dann summt sie die Melodie, die ich eben erfunden habe.
    Wir lächeln uns an.
    «Das hast du schon als Kind immer gemacht», erzählt sie. «Ständig hast du kleine Lieder erfunden. Über alles Mögliche. Manchmal durfte ich mit einstimmen.»
    «Tut mir leid … Ich wünschte, ich könnte mich daran … erinnern.» Mein Lächeln versiegt, und meine Stimme bricht weg, aber sie tröstet mich: «Pschschscht! Weine nicht, mein Liebling. Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist am Leben. Du bist hier. Und dafür bin ich unglaublich dankbar. Verschwende keine einzige Sekunde mehr daran, dich zu entschuldigen.»
    «Die Nachrichten. Ist das wahr?» Ich deute auf den Fernseher.
    «Oh, den schalten wir wohl besser aus, Liebes. Das regt dich nur auf.»
    «Aber stimmt es? Ist das wahr? All die Menschen sind wirklich tot?»
    Seufzend nimmt sie meine Hände in ihre. «Ja. Du warst in einem Flugzeug, auf dem Weg von New York nach San Francisco. Zwei Stunden nach dem Start stürzte es ab.» Ihr Gesicht wird ganz blass, während sie mir das erzählt. «Die Ursache ist noch unklar.» Sie wedelt mit der Hand, und ihr Schmuck füllt klimpernd das Schweigen zwischen uns. «Mal sehen, ob ich dir dabei helfen kann, dich an irgendwas zu erinnern. Also, du arbeitest in einer Kunstgalerie. Du bist zweiunddreißig Jahre alt. Du lebst in New York.» Sie zögert. «Bringt … bringt irgendwas davon deine Erinnerung zurück?»
    Ich schüttle den Kopf. «Und dieser Peter? Peter ist mein … Mann?» Ich versuche mir eine Welt vorzustellen, in der ich ihm das Ja-Wort gab, ihm, diesem fremden Mann. Ich kann es mir nicht vorstellen. Wichtiger noch, ich kann es nicht spüren .
    «Genug für heute Abend», sagt meine Mutter, zieht die Decke bis zu meinem Kinn und steckt sie fest wie bei einem kleinen Kind. Sie beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. Dabei summt sie meine Melodie, als könnte sie mich dadurch beruhigen, als wäre dieses Lied das ersehnte Heilmittel, das mich gesund machen könnte. «Erst mal sorgen wir dafür, dass du wieder ganz die Alte wirst. Dann haben wir Zeit, all die ungeklärten Fragen zu beantworten.»
    Ja , denke ich, erst einmal überhaupt wieder so werden, wie ich war. Und dann ist immer noch Zeit für alles andere.

[zur Inhaltsübersicht]
    2
    A ls ich mühsam meine Augen öffne, macht sich gerade eine Krankenschwester an einem Schlauch in meinem Arm zu schaffen. Obwohl meine Mutter inzwischen gegangen ist, hat sie mich nicht allein gelassen. Die Wände sind mit Fotos bedeckt, auf dem Nachttisch türmen sich Alben, die wohl die Überreste meiner Vergangenheit beherbergen, Erinnerungen an die Person, die ich war, ehe ich völlig kaputt auf einem Maisfeld irgendwo in Iowa gelandet bin.
    «Hallo, Nell!», sagt die Schwester. «Wie fühlen Sie sich?»
    «Müde. Durstig. Randvoll mit einer Million Fragen.»
    Sie nickt lächelnd und hält mir eine Schnabeltasse hin.
    «Wir haben Ihre Mutter ins Hotel geschickt, damit sie etwas schlafen kann. Sie kommt bald wieder. Die hier hat sie Ihnen dagelassen. Der Doktor hatte darum gebeten. Ich werde ihn gleich rufen. Er kann bestimmt ein paar Ihrer Fragen beantworten.» Sie legt mir eines der Fotoalben auf den Schoß.
    Dann verlässt sie das Zimmer, und ich bin ganz allein. Allein mit mir, einer Fremden in meinem eigenen Leben.
    Ich schlage die erste Seite auf. Glänzende, strahlende Gesichter blicken zu mir hoch. Dieser fremde Mann, mein Mann – Peter – und ich. Aber wo? Mitten in einem glasklaren, blauen Ozean. Er mit hochgeschobener Taucherbrille, ich in einem lila Bikini und der Andeutung eines Sonnenbrandes auf der Nase. Ich blättere weiter, Seite um Seite. Die Fotos sehen alle ziemlich gleich aus: Gesichter, die ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher