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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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nicht erkenne, um Schultern geschlungene Arme, Hände, die mit Bierkrügen oder Margaritagläsern in die Kamera prosten, an irgendwelchen Stränden, in Bars oder schicken Wohnungen, die mir alle nicht das Geringste sagen. Die Frauen sind in gewöhnlichem Sinne hübsch, tragen dunkle Jeans und harmlose Trägerhemdchen; die Männer haben noch nicht angefangen, kahl zu werden oder einen Bauch zu bekommen. Im Großen und Ganzen sieht dieses Leben, das angeblich meins sein soll, solide aus, zufrieden, man könnte es schlechter treffen. Wenn ich mich doch nur irgendwie daran erinnern könnte, mit Sicherheit sagen könnte, dass es mein Leben ist. Ich atme aus und versuche, an etwas anderes zu denken. Daran, dass ich ein lebendes Wunder bin, dass ich vom Himmel geschleudert wurde und dass allein die Tatsache, jetzt hier zu sein – mir Gedanken über diese Gesichter zu machen, überhaupt über dieses offensichtlich gelungene Leben nachgrübeln zu können –, mehr als genug ist, um dankbar zu sein. Ich lasse den Kopf leicht nach hinten sinken. Wer bin ich gewesen? Kunsthändlerin. Eine beneidete, wohlhabende Frau von Welt, bewundert und verehrt, Vorstandsmitglied diverser Wohltätigkeitsorganisationen, Mentorin von Kindern der Stadt mit künstlerischem Talent. Ja, das klingt richtig. Das klingt sogar fabelhaft.
    Von der Tür her ertönt ein Räuspern, und ich öffne die Augen. Ich lasse den Blick von der Decke nach unten schweifen und sehe einen Typen mit blondbraunen Haaren, die sich bestimmt mit etwas Gel zu einem hippen, angedeuteten Irokesen stylen ließen. Der Mann sitzt im Rollstuhl. Er wirkt blass und mitgenommen, doch besitzt er die perfekten Wangenknochen, ein Gesicht, nach dem man sich auf der Straße im Vorbeigehen noch mal umdreht. Ich spüre, wie ich bei seinem Anblick wider Willen erröte, weil er so gut aussieht und weil er mich so intensiv anstarrt.
    «Entschuldigen Sie, Nell, kann ich kurz reinkommen?»
    Ich nicke verwirrt. Eine Schwester schiebt ihn an mein Bett.
    «Danke, Alicia, den Rest schaffe ich allein.»
    «Drücken Sie einfach den Rufknopf, wenn Sie mich brauchen», ruft sie ihm im Hinausgehen über die Schulter hinweg zu, fast, als würde sie mit ihm flirten. Ich runzle die Stirn. Warum sollte sie mit ihm flirten?
    «Ich habe gehört, dass du dich wahrscheinlich nicht an mich erinnerst», sagt er.
    «Tut mir leid. Das stimmt.»
    «Schon gut, das spielt keine Rolle.» Er winkt ab, und ich erhasche einen Blick auf die Tätowierung an seinem Handgelenk. Eine Überraschung angesichts dieser mageren Gestalt in dem spülwasserfarbenen Krankenhaushemd, die zusammengesunken vor mir im Rollstuhl sitzt. «Aber als ich gehört habe, dass du aufgewacht bist, habe ich sofort darum gebeten, dich besuchen zu dürfen. Es ist unglaublich, dass seit … alldem … eine Woche vergangen sein soll.» Seine Stimme wird brüchig, und er muss schlucken. Dann gibt er sich einen Ruck. «Ich heiße Anderson Carroll, und auch wenn du dich nicht daran erinnerst, hast du mir das Leben gerettet.»
    «Wie bitte? Tatsächlich?» Ich merke, wie sich meine Stirn in Falten legt, wie ich systematisch mein Hirn durchforste, aber es fühlt sich an wie ein zu lange nicht benutzter Muskel, erschlafft, kraftlos, unfähig.
    «Wir saßen auf dem Flug nebeneinander», erzählt er. «Ich … na ja, wahrscheinlich hatte ich einen Wodka Tonic zu viel – das passiert mir beim Fliegen öfter –, und ich bin ein paar Minuten weggedöst. Als es losging, hast du mich geweckt. Du hast mir den Sicherheitsgurt angelegt und mir befohlen, den Kopf auf die Knie zu legen, mich möglichst klein zu machen und auf das Schlimmste gefasst zu sein.» Seine Worte geraten ins Stocken, ihn juckt es sichtlich in der Nase. «Hör zu, ich habe keine Ahnung, weshalb ausgerechnet wir beide überlebt haben. Aber ich weiß, dass ich dir mein Leben verdanke – ich wäre mindestens fünfzehn Kilometer von diesem Flugzeug entfernt aufgeschlagen, wenn du mich nicht angeschnallt und beruhigt hättest.»
    Ich starre ihn einen Augenblick lang an und wiederhole innerlich, was er da eben gesagt hat. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich beschließe, dass ich ihn richtig verstanden habe – ich habe ihn gerettet, ich bin aus diesem Horrorszenario als Heldin hervorgegangen.
    «Gern geschehen.» An dem Schnitt auf meiner Oberlippe saugend, versuche ich, die Puzzleteile zusammenzufügen. «Wie habe ich das gemacht? Dich beruhigt?» In mir wallt etwas auf, ein
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