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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag
Autoren: Allison Winn Scotch
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mich erst erreicht, als ich bereits versinke. Dann wird alles wieder still.

    Als ich zum zweiten Mal aufwache, sitzt die Champignonfrau schlafend auf einem Stuhl an meinem Bett. Das Piepen ist langsamer geworden, eine Imitation meines Herzschlags, so leise, dass ich es kaum noch registriere. Es ist zwar da, natürlich ist es da, aber fast wie weißes Rauschen, wie die Stelle, wo einen der Bruder so oft gezwickt hat, dass man sie gar nicht mehr spürt.
    In der Ecke läuft ein Fernseher, leise gestellt, um nicht zu stören, aber doch so laut, dass ich verstehe, was gesagt wird.
    Am unteren Bildschirmrand läuft grellrot der Nachrichtenticker. Im Bild ist ein Mann vor einem Krankenhaus zu sehen. Im Hintergrund heult die Sirene eines Krankenwagens auf, aber entweder, der Mann hört sie nicht, oder er ist zu sehr Profi, um sich davon irritieren zu lassen. Jedenfalls spricht er weiter, ohne mit der Wimper zu zucken.
    «Uns hat vor kurzem die Nachricht erreicht, dass Nell Slattery, eine der beiden Überlebenden von Flug 1715, aus dem Koma erwacht ist. Wie Sie sich bestimmt erinnern, wurde Mrs. Slattery auf ihren Sitz geschnallt knapp zweihundert Meter entfernt von der Absturzstelle gefunden, direkt neben dem Filmschauspieler Anderson Carroll – dessen Geschichte wir alle kennen –, dem einzigen anderen Überlebenden dieser Katastrophe. Die mit der Untersuchung der Absturzursache beauftragten Sachverständigen vermuten, dass die Sitze der beiden während des Aufpralls oder unmittelbar davor aus der Maschine hinausgeschleudert wurden. Mrs. Slattery ist äußerlich angeblich erstaunlich unversehrt geblieben. Sie erlitt jedoch eine schwere Gehirnerschütterung und ein Hirnödem. Bisher wagten die Ärzte keine Prognosen über ihren Zustand, bis Nell Slattery heute aus dem Koma erwachte. Dass sie überhaupt ihr Bewusstsein wiedererlangt hat, gilt hier als außerordentlich gute Nachricht.»
    Kurz darauf erscheint ein Arzt auf dem Bildschirm. Er steht an einem Rednerpult, das von Blitzlichtgewitter erleuchtet und hektisch drängelnden Armen mit Mikrophonen umringt wird. Ich erkenne die Stimme von Dr. Stark. «Nell Slattery ist heute für etwa sieben Minuten aufgewacht. Die ärztliche Schweigepflicht verbietet mir, Sie zu diesem Zeitpunkt umfassender über ihren Zustand zu informieren. Dennoch freue ich mich, bestätigen zu können, dass sie wieder bei Bewusstsein ist. Wir werden Sie selbstverständlich über ihre Fortschritte auf dem Laufenden halten.»
    Das bin ich. Die reden über mich. Nell Slattery. Ich lasse mir den Namen durch den Kopf gehen, betaste ihn innerlich. Ja. Das fühlt sich irgendwie richtig an. Ich versuche noch einmal, mich an einen Absturz zu erinnern, daran, aus einem Feuerball heraus und von der Schwerkraft einem unausweichlichen Tod entgegengeschleudert zu werden. Doch da ist nur eine dumpfe Leere, ein großes, weites Nichts.
    Ich wende mich wieder dem Fernseher zu.
    «Das Schicksal von Mrs. Slattery und Mr. Carroll hält die Nation in Atem», sagt der Reporter gerade. «Die Tatsache, dass Nell Slattery das Bewusstsein wiedererlangt hat, gibt allen hier im Krankenhaus und im ganzen Land neue Hoffnung.»
    «Es ist unglaublich! Es ist, als hätte Gott uns ein Wunder geschickt!», schluchzt eine Frau in die Kamera. «Gott segne dieses Mädchen und Anderson Carroll! Sie haben uns neuen Grund zum Glauben gegeben!»
    «Und so», fährt der Reporter fort, «ist heute die Stimmung im ganzen Land. Ein Tag der Hoffnung und der Dankbarkeit. Nell Slattery, vor einer Woche nach dem verheerenden Absturz von Flug 1715, bei dem einhundertzweiundfünfzig Menschen ums Leben kamen, auf einem Feld mitten in Iowa lebend aufgefunden, hat das Bewusstsein wiedererlangt. Wir werden Sie weiterhin auf dem aktuellsten Stand halten. Ich bin Jamie Reardon, glücklich angesichts des Wunders, das uns heute zuteil wurde, und ich melde mich zurück, sobald es etwas Neues zu berichten gibt.»
    Er nickt als Zeichen für das Nachrichtenstudio, zurückzuschalten, und ich wünschte, er würde es nicht tun, würde nicht einfach so abschalten. Sein Gesicht hat etwas unglaublich Tröstliches an sich, genau wie seine Art, die Fakten zu verkünden, ohne dabei zu nüchtern zu klingen, oder über die wesentlichen Details meines Lebens zu sprechen, ohne mich dabei zu Tode zu erschrecken.
    Jamie Reardon, Jamie, Jamie Reardon, Jamie, Jamie, sag mir, was soll aus mir werden? Eine Melodie schwirrt durch meinen Kopf, eine Ansammlung von Noten, ein
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