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Ein Pyrenäenbuch

Ein Pyrenäenbuch

Titel: Ein Pyrenäenbuch
Autoren: Kurt Tucholsky
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hohen
Zimmer und nehme Abschied, von Yvette Guilbert, von den zarten Farben und von
dem dröhnenden Schlag eines Spazierstockgriffs auf einen Sektkühler. Es gibt das
alles nicht mehr; man ist heute anders unanständig. Mit der Zeit — das geht so
schnell! — sinken Gefühle zu Boden, optische Anspielungen, nur von denen einmal
verstanden, die sich mitgekitzelt fühlten. Vor manchem stehe ich nun und kann
es nicht mehr lesen. Aber ich verstehe es mit dem andern Nervensystem, dem
Solarplexus — es springt da etwas über, von dem ich nur weiß, daß es zwinkernd,
züngelnd und doch nicht verrucht ist. Es ist das Knistern, das entsteht, wenn
sich Menschen berühren: Haßknistern, Spott... und eine etwas lächerliche
Formalität. Die Liebe after dinner.
    Von Albi sehe ich dann gar
nichts mehr. Oder wenigstens: ich habe alles vergessen. Ich weiß nur noch, daß
ich in eine Flaschenfabrik hineingehen wollte, wie mögen wohl Flaschen gemacht
werden, dachte ich — und da standen zwei ältere Arbeiter vor dem Portal. Sie
sagten: «Heute nicht.» — «Warum nicht?» fragte ich. «Es wird gestreikt», sagten
sie, «Marokko.» Nun, es war das ein Teilstreik, und sie wußten das auch sehr
genau. Sie sagten, es nütze ja doch nichts. Ich schwieg — denn ich bin in
Frankreich. Aber ich wußte: es nützt immer. Nichts ist verloren. Es ist ein
Steinchen, wenn ein paar Fabriken gegen den Staatsmord protestieren, wenn sie
nicht mehr wollen, wenn die Arbeiter ihre Söhne nicht mehr hergeben wollen...
    Und dann fuhr ich nach Toulouse
zurück. Da wohnte noch jemand, den ich zu besuchen hatte.
    Eine alte Dame empfing mich in
ihrer Wohnung, die in einer stillen Straße liegt. Die Comtesse de
Toulouse-Lautrec ist heute vierundachtzig Jahre alt. Sie geht langsam, sie ist
frisch, freundlich, gut. Da kam sie auf mich zu, sah mich durch ihre
Stahlbrille an... und dann begann sie von ihrem Sohn zu sprechen.
    Sie spricht von seiner
Jugendzeit, als er so fleißig in Paris gelernt hat; von seinem festen Willen,
und —: «Er war ein so guter Schwimmer, wissen Sie!» sagt sie. Nur eine Mutter
kann das sagen. Und nun wird sie lebhafter und macht mich auf die
Kohlezeichnungen aufmerksam, die da hängen: die Köpfe zweier alter Damen, es
sind die Großmütter Lautrecs. Wieder sehe ich:
    In der Kunst gibt es kein
Mogeln. Der Mann war in seiner Ausbildung ein Handwerker, ein Akademiezeichner
wie Anton von Werner, und auf diesem Grunde hat er gebaut. Wissen die Leute,
daß George Grosz zeichnen kann wie ein Fotograf? Man kann nur weglassen, wenn
man etwas wegzulassen hat. Mogeln gilt nicht.
    Und die Mutter zeigt kleine
Bildchen, Illustrationen zu einem Werk Victor Hugos, niemals vollendet; der
Verleger machte Geschichten, und Lautrec zerriß langsam das Bild, das er grade
unter den Händen hatte. Und ein Album mit den ungelenken Zeichnungen des
Knaben, schon sieht hier und da etwas andres heraus als nur die Kinderhand, die
das Zeichnen freut.
    Und sie spricht von seinem
Leben und erzählt seine kleinen Schulgeschichten. Wie er stets gearbeitet
hat... «Ich bin immer nur ein Bleistift gewesen, alle meine Tage», hat er
einmal von sich gesagt — und wie er niemals ohne sein Notizbuch ausging, in das
er eine Unsumme von Details auf zeichnete wie er lebte, und wie sie ihn doch
nicht lange gehabt hat. Er starb mit siebenunddreißig Jahren. Zum Schluß, als
er so krank gewesen ist, hat sie eine Reise nach Japan mit ihm machen wollen,
er liebte Japan, da hängt noch ein japanischer Druck, den er sich gekauft hat.
Aus der Reise ist nichts mehr geworden. Und die alte Dame sagt: «Il est si
triste d’être seule.»
    Und dann gehe ich von der, die
diesen Meister geboren hat.
     
    Wenn Er bläst: wird das Jüngste
Gericht gerechter sein als die Verwaltungsbehörden auf Erden, die sich für
Gerichte ausgeben? Wenn Er bläst, wird auch dieser kleine, etwas vornehme Mann
erscheinen. «Henri de Toulouse!» ruft der Ausrufer. «Huse—» macht es. «Lautrec!»
ruft der Ausrufer. «Meck-meck!» — lachen die kleinen Teufel. Da steht er.
    «Warum hast du solch einen
Unflat gemalt, du?» fragt die große Stimme. Schweigen.
    «Warum hast du dich in den
Höllen gewälzt... deine Gaben verschwendet... das Häßliche ausgespreizt —
sage!»
    Henri de Toulouse-Lautrec steht
da und notiert im Kopf rasch den Ärmelaufschlag eines Engels.
    «Ich habe dich gefragt. Warum?»
    Da sieht der verwachsene,
kleine Mann den himmlischen Meister an und spricht:
    «Weil ich die
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