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Ein perfekter Freund

Ein perfekter Freund

Titel: Ein perfekter Freund
Autoren: Martin Suter
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Nachlaß. Mit jeder Stunde wuchs seine Präsenz im Raum und Fabios Bestürzung darüber, wie wichtig er in dessen Leben gewesen sein mußte. Er stieß auf ganze Dossiers mit Belegen von Fabio-Rossi-Artikeln; es gab handschriftliche Notizen von Fabio Rossi auf Bierdeckeln und Freßzetteln; Klebenotizen mit dummen Sprüchen, die Fabio Lucas an den Bildschirm geklebt hatte; Randbemerkungen von Fabio Rossi auf Manuskriptseiten von Lucas Jäger; Fotos von Fabio Rossi mit Lucas Jäger, Fotos von Fabio Rossi mit Norina Kessler.
    Von Dr. Barths Aufzeichnungen keine Spur.
    Als sie das Licht im Zimmer löschten und die Tür schlossen, sagte Norina: »Jetzt könnte ich ein Glas Wein vertragen.«
    Fabio entkorkte die Flasche und schenkte zwei Gläser voll. Sie setzten sich an den Küchentisch und stießen an.
    »Auf Lucas«, sagte Norina.
    »Auf Lucas.«
    Sie tranken schweigend.
    Nach einer langen Zeit sagte Fabio: »Ich wußte nicht, daß ich ihm so wichtig war.«
    Norina nickte. »Fabio hat gesagt. Fabio meint. So hat es Fabio immer gemacht. Fabio dies, Fabio das.«
    »Das ging dir bestimmt auf den Wecker.«
    »Wenn wir Streit hatten, dann meistens wegen dir. Er war fassungslos über deine Verwandlung. Für ihn brach eine Welt zusammen. Und trotzdem ließ er nichts auf dich kommen.«
    Norina nahm einen Schluck. Sie hatte wieder etwas Farbe bekommen. »Weißt du, daß wir uns stritten, weil ich mich weigerte, dich im Spital zu besuchen? Er redete mir ins Gewissen, als ich deine Anrufe nicht annahm und auf deine Nachrichten nicht reagierte. Ich glaube, am liebsten hätte er mich eigenhändig zu dir ins Bett gesteckt.«
    »Merkwürdig.«
    »Er sagte einmal, dir sei das Wunder der zweiten Chance zuteil geworden. Es stehe uns nicht zu, es zunichte zu machen.«
    »Das Wunder der zweiten Chance. Und das aus dem Mund eines Atheisten.« Er füllte die Gläser nach. »For the road.«
    »Bist du mit dem Fahrrad hier?«
    Fabio überlegte, ob er ihr die Wahrheit erzählen solle, sagte dann aber nur: »Es wurde gestohlen.«
    »Dein teures Aluminiumrad?«
    »Die Sternstraße ist keine gute Gegend für teure Aluminiumräder.«
    Norina zögerte. »Du kannst auch hier schlafe n.«
    Fabio schaute ihr in die Augen und sagte: »Das würde ich gerne.«
    »Auf der Gästecouch, okay?«
    »Okay«, antwortete Fabio, als hätte er nie etwas anderes angenommen.
    »Das gestern…« - sie überlegte -, »… das war eine besoffene Verzweiflungstat.«
    »Ich fand es schön.«
    »Eine schöne besoffene Verzweiflungstat.«
    Als sie zusammen die Couch bezogen, sagte Norina: »Die letzten beiden Tage hat er im Gourrama oben gewohnt. Vielleicht sind die Dokumente bei seinen Sachen dort. Wollen wir morgen nachsehen gehen? Ich habe am Nachmittag drehfrei. Nationalfeiertag.«
    Er bestand darauf, daß sie als erste ins Bad ging. Er stellte sich ans offene Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Die Häuserzeile gegenüber war dunkel. Nur das Schaufenster der Pizzicheria Neri war erleuchtet. Zur Abschreckung der Einbrecher, nach der Theorie von Lino Neri selig.
    Norina kam aus dem Bad. »Ich habe dir ein Frottiertuch und eine Zahnbürste hingelegt.«
    Sie gaben sich einen Gutenachtkuß. Sie roch nach Zahnpasta und ihren geheimnisvollen Cremes. »Wenn wir die Beweise fänden, wäre die Polizei doch gezwungen, auch die Möglichkeit eines Mordes zu prüfen?«
    »Ich denke schon.«
    »Stell dir vor, ich glaubte, ich hätte seinen Selbstmord auf dem Gewissen, und dabei wurde er umgebracht.«
    »Niemand hat den Selbstmord eines anderen Menschen auf dem Gewissen.«
    Am nächsten Morgen stand Fabio bereits kurz nach sieben bei Grazia Neri im Laden. Sie musterte ihn angewidert. »È un peccato.« Diesmal meinte sie die Sünde der Übernachtung bei frischgebackenen Witwen.
    Aber sie gab ihm von ihrem schwarzen, süßen Kaffee zu trinken und ein Stück Toast mit einer Scheibe Salami.
    »Schinken hattet ihr ja gestern abend«, bemerkte sie vorwurfsvoll.
    Als Fabio die Treppenhalle des Apartmenthauses Florida betrat, stand sein Fahrrad wieder an der alten Stelle.
    Er ging vorsichtig näher. Die Reifen waren nagelneu und hart gepumpt.
    So schnell er konnte, rannte er die Treppen hinauf und schloß sich im Apartment ein. Auf die Tischplatte gestützt wartete er, bis er wieder zu Atem kam.
    Er wußte nicht, was ihm mehr angst machte: die Verstümmelung seines Fahrrads oder dessen unversehrte Wiederkehr. Es war, als wollte ihm jemand zeigen, daß er nach Belieben bei ihm ein und aus
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