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Ein König für Deutschland

Ein König für Deutschland

Titel: Ein König für Deutschland
Autoren: Andreas Eschbach
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Stunde der Wahrheit. Dies war der Moment, in dem man nur das zu denken brauchte, was man wirklich dachte.
    Und was für eine Erleichterung, zu wissen, dass niemand lauschen, zusehen, mithören könnte, wie man abstimmte. Keine Gefahr, sein Gesicht zu verlieren, ausgelacht oder beschimpft zu werden oder sonst irgendwelche negativen Folgen befürchten zu müssen: War man sich bei den Maschinen denn da jemals wirklich sicher gewesen?
    Und was für eine Erleichterung, zu wissen, dass das Kreuz, das man auf das Papier setzte, bleiben würde, an genau der Stelle, an die man es gemacht hatte.
    Die Entscheidung treffen. Ankreuzen. Den Stimmzettel zusammenfalten, in den Umschlag tun – fertig. Und schon konnte man wieder hinaustreten in die Öffentlichkeit, die heute öffentlicher war als je zuvor. Egal, man trug seine Privatheit im Innern des Umschlages zur Urne, und sobald dort die Abdeckung über dem Schlitz weggezogen wurde und der Umschlag hineinfiel, wurde endgültig Anonymität daraus.
    Endlich, der Abend. Der Blick auf die Uhr, wie der große Zeiger die letzten Minuten durchmaß. Der Wahlleiter, der die Schließung des Lokals und das Ende der Abstimmung verkündete. Achtzehn Uhr: Diesmal blieb kein Wahllokal in ganz Deutschland um diese Zeit leer. Mancherorts musste man für die Auszählung der Stimmen in Turnhallen oder Gemeindesäle ausweichen, so viele Beobachter, Zuschauer, Schaulustige waren gekommen.
    Wenn endlich jeder, der wollte, sich vom einwandfreien Zustand des Siegels einer Urne überzeugt hatte, wurde diese geöffnet, die Wahlumschläge auf dem Tisch ausgebreitet, zu Stapeln aufgeschichtet und dann der Reihe nach aufgemacht. Der jeweilige Stimmzettel wurde herausgenommen, vorgezeigt undvorgelesen – »eine Stimme für JA« oder »eine Stimme für NEIN« –, worauf jemand einen Strich in die entsprechende Strichliste setzte und der Stimmzettel auf den entsprechenden Haufen kam.
    Die meisten Beobachter beschränkten sich darauf, hinzuschauen, ob auch tatsächlich ein JA angekreuzt war, wenn der Auszählende »Ja« rief, aber manche führten hochkonzentriert ihre eigenen Strichlisten. Am Schluss gab es hier und da kleinere Abweichungen, von denen sich die meisten aufklärten, wenn man seine Striche noch einmal einzeln durchzählte; in der Regel hatte jemand in dem Fall sechs Striche zu einem Block zusammengefasst anstatt fünf. Letzte Zweifelsfälle ließen sich jederzeit durch Nachzählen der sorgsam aufgestapelten Stimmzettel klären.
    Wenn der Wahlleiter am Ende all dieser Diskussionen die endgültigen Zahlen in das entsprechende Formular eintrug und seine Unterschrift daruntersetzte, hatten alle Beteiligten das Gefühl, dass harte Arbeit hinter ihnen lag.
    Diesmal verzichtete das Fernsehen auf Hochrechnungen und berichtete stattdessen aus zahllosen Wahllokalen, interviewte Leute aller Schichten und brachte den ganzen Tag über immer wieder Informationsbeiträge, die Grundsätze ordnungsgemäßer Wahlen 97 betreffend. Auch in den Wahllokalen lag mehr diesbezügliches Informationsmaterial aus als üblich; alle Wahlgesetze und -vorschriften waren überall zur Hand.
    So dauerte es bis zum Montagnachmittag, bis ein Ergebnis verkündet werden konnte, mit der Einschränkung, dass dieses noch auf der telefonischen Übermittlung der Abstimmungsergebnisseberuhte; das amtliche Endergebnis würde erst nach Vorlage der Originalformulare beim Bundeswahlleiter ermittelt werden.
    Das vorläufige Ergebnis (an dem sich auch später nichts mehr änderte) sah folgendermaßen aus: Die Frage »Soll in Deutschland eine Monarchie eingeführt werden?« hatten 12,3 Prozent der Wahlberechtigten mit JA beantwortet. 87,6 Prozent hatten sich dagegen ausgesprochen, 0,1 Prozent der Stimmen waren ungültig.
    Bundeskanzler Alexander Leicht erklärte gefasst, dieses Votum zu akzeptieren und umgehend die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
    Da der Bundestag infolge der jüngsten Änderungen am Grundgesetz das Recht besaß, sich mit absoluter Mehrheit selber aufzulösen, tat er dies. Es wurden Neuwahlen angesetzt, ebenfalls ohne Wahlgeräte. In diesen Neuwahlen (an denen die VWM nicht mehr teilnahm) gewannen die üblichen Parteien mehr oder weniger die üblichen Anteile der Stimmen, und wie üblich entschieden einige wenige Zehntelprozente, wer letzten Endes die Regierung zu stellen hatte: Wieder einmal war es eine Große Koalition.
    Man werde, erklärte ein Politiker, der für das Amt des Innen- oder Justizministers gehandelt wurde,
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