Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein kleines Stück vom Himmel nur

Ein kleines Stück vom Himmel nur

Titel: Ein kleines Stück vom Himmel nur
Autoren: Amelia Carr
Vom Netzwerk:
Bremsen fest, während die Motoren hochlaufen, und starrt dabei angestrengt auf den Drehzahlmesser, weil ihre Augen nicht mehr so gut sind. Aber sie kann die richtige Drehzahl sowieso mehr oder weniger am Klang der Motoren hören. Obwohl sie schon jahrelang nicht mehr geflogen ist, gibt es ein paar Dinge, die man einfach nicht vergisst.
    Okay – es ist so weit. Sie lässt die Bremsen los, und die Beech schießt vorwärts und nimmt Fahrt auf. Sie blickt wieder auf das Instrumentenbrett und wartet auf den magischen Moment um zu … rotieren. Die Nase hebt sich, die Räder haben sich vom Boden gelöst. Sie verändert den Anstellwinkel hin zu einem sanften Steigflug und sieht, wie das Gras neben der Startbahn sich langsam immer weiter entfernt. Plötzlich breitet sich ein Gefühl grenzenloser Erleichterung und Freude in ihr aus.
    Nancy fühlt sich wohl, das Fliegen macht ihr tatsächlich Spaß. Ja, es ist zwar eine furchtbare körperliche Anstrengung, da ihre Hände so steif und nutzlos sind und die Schmerzen ihr wie Feuer durch die Handgelenke bis in die Arme emporschießen. Ja, es tut ihr auch in der Seele weh, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Dass Ritchie so verdammt dumm und unverantwortlich handeln konnte. Aber natürlich ist das wieder mal typisch für Ritchie. Immer hat er verzweifelt versucht, etwas richtig zu machen, und dabei gar nicht gemerkt, dass er alles falsch gemacht hat. So war es schon immer; Urteilsvermögen hat noch nie zu seinen Stärken gehört. Sollte es ihr gelingen, ihm wieder eine weiße Weste zu verschaffen, damit er einen Neuanfang versuchen kann, kann sie nur hoffen, dass Ritchie beim nächsten Mal mehr Verstand zeigt. Vielleicht wird Ellen ihm die Sache mit John erzählen. Vielleicht hilft es Ritchie, wenn er erfährt, dass John gar nicht so perfekt war, wie alle dachten, und er überwindet endlich seinen Minderwertigkeitskomplex. Vielleicht gelingt ihm dann ein Neuanfang – bei Wings West ebenso wie bei Mary-Lyn.
    Sie hofft bloß, dass er sich nicht die Schuld an dem geben wird, was sie jetzt vorhat. Sie hat einen Brief hinterlassen, in dem sie erklärt, was der Arzt ihr letzte Woche mitgeteilt hat: dass sie Krebs hat und ihr noch maximal sechs Monate bleiben; dass sie sich nun, nachdem sie endlich alle Dinge richtiggestellt hat, dazu entschlossen hat, ihrem Leben lieber ein rasches Ende zu bereiten, auf eine Art und Weise, die ihr gefällt, statt unter Schmerzen und abhängig von anderen dahinzuvegetieren. Die illegale Drogenfracht an Bord hat sie mit keinem Wort erwähnt. Sie hofft, dass Monica Ritchie gegenüber nicht verraten wird, dass sie, Nancy, von den Drogen erfahren hat und auch wusste, dass man das Flugzeug durchsucht hätte, sobald Ritchie eingestiegen wäre. Aber falls Monica es dennoch erwähnen sollte, hat Nancy ausdrücklich betont, dass niemand über ihren Entschluss traurig sein soll; sie möchte die Dinge auf ihre Weise zu Ende bringen. Es ist ihr freier Entschluss, sich das Sterben zu erleichtern. Und sie hat noch hinzugefügt, dass sie alle sehr lieb hat und dass dieser Weg besser ist als ein langer, quälender Abschied.
    Und so ist es auch. Seltsamerweise ist sie beinahe froh darüber, dass sie zu dieser Entscheidung gezwungen wurde. Es ist einfach so verdammt schön, wieder auf dem linken Sitz eines Flugzeugs zu sitzen, kleine Korrekturen zu machen, ein wenig in die Querlage zu gehen und zu sehen, wie sich der Horizont neigt, die Nase zu heben und die Reaktion in der Magengrube zu spüren. Sie nimmt Kurs auf den Golf von Mexiko und steigt bis auf zweitausend Fuß. Das ist hoch genug. Heute will sie nicht in den Wolken spielen. Sie muss ihr Vorhaben zu Ende bringen, solange ihr noch genug Kraft in den schmerzenden Handgelenken bleibt. Und allein, dass sie überhaupt wieder fliegt, reicht ihr schon. Es ist gar nicht nötig, irgendwelche Flugkunststücke zu machen. Es reicht ihr schon, ein letztes Mal hier oben zu sein, in der weiten Stille des Himmels.
    Während sie in konstanter Höhe über das Meer fliegt, erfüllt sie ein Gefühl des Friedens, ein Gefühl der Richtigkeit, als ob genau das ihre ursprüngliche Bestimmung sei. Es ist bei weitem besser, dass es so endet, als langsam zu einem nutzlosen Wrack zu verfallen, einem Schatten ihrer selbst. Und sie ist bereit dazu. Schon vor dieser unabwendbaren Prognose hatte sie sich müde
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher