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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco
Autoren: Hanni Bayers
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verdrängen, und viel gearbeitet. Natürlich geistert der Idiot mir immer noch im Kopf rum, und immer wieder zwinge ich mich, schöne Erinnerungen wie an das Wochenende in Point Reyes zu vergessen. Es gelingt mir nicht! Doch heute habe ich zumindest das Gefühl, zum ersten Mal wieder etwas zu entspannen und ein bisschen herunterzukommen nach wochenlanger Arbeit an Healthquestion .
    Sophia zeigt auf einen rechteckig angelegten Innenhof, der mich an einen mittelalterlichen Kreuzgang erinnert – mit dem Unterschied lediglich, dass hier keine Mönche in Kutten spazieren gehen, sondern zwei kleine Kinder Fangen spielen und ein Student auf dem Boden sitzend an seinem MacBook arbeitet. Wir erkunden die Architektur im romanischen und spanischen Missionsstil und machen einige Fotos von dem beeindruckenden Glockenturm der Universität, von dem aus wir bis zur San-Francisco-Bucht schauen können. „Habt ihr Lust, noch im Stanford-Shop vorbeizuschauen?“ Schon seit Monaten möchte ich eine der Stanford-Uni-Tassen kaufen. „Wenn es sein muss und ihr euch beeilt, Mädels.“ Vijay ist nicht sonderlich begeistert. Bürobedarf,Bücher, Klamotten und Snacks werden hier verkauft, Menschen schieben sich vor uns in den Laden, während andere samt prall gefüllter Tüten herausdrängen. „Wow, was hier für ein Universitätspatriotismus herrscht“, stelle ich fest. Viele der jungen Menschen tragen Stanford-Pullover, Stanford-Kappen und Stanford-Schlüsselbänder, und es gibt so viele unterschiedliche Merchandise-Artikel mit dem Uni-Logo, dass ich gar nicht weiß, wo ich zuerst hinschauen soll. „Ja, das ist an den amerikanischen Universitäten so. Die Studenten fühlen sich ein ganzes Leben lang mit ihrer Bildungseinrichtung verbunden“, sagt Vijay. „Das könnte mir nicht passieren. Ich bin nur froh, mit der Uni abgeschlossen zu haben“, scherze ich. „Na ja, wenn du um die 30 000 Dollar pro Semester für deine Bildung auf den Tisch legst, willst du zumindest stolz darauf sein dürfen“, fügt er hinzu, und Sophia ergänzt: „Viele Absolventen sind hoch verschuldet, wenn sie ins Berufsleben einsteigen. Ich habe mal gelesen, dass der durchschnittliche Amerikaner mit Mitte zwanzig sogar ärmer ist als ein Afrikaner im gleichen Alter. Die haben zumindest keine Schulden. Heftig, oder? Mich wird es auch noch Jahre kosten, bis ich meinen Studienkredit zurückgezahlt habe.“
    Aber sie wirkt nicht weiter betrübt wegen dieser Tatsache. Im Gegenteil, sie zeigt sich recht konsumfreudig: Bis ich im Stanford-Laden endlich meine Tasse gefunden habe, hat Sophia schon diverse Bücher, T-Shirts, Pullover und Büroartikel erspäht, die sie auf einmal ganz dringend benötigt. Noch an der Kasse bestaunen wir unsere Einkäufe, und ich stelle erfreut fest, dass das Stanford-Motto, das viele der Andenken tragen, deutsch ist: „Die Luft der Freiheit weht“ (von dem Humanisten Ulrich von Hutten). „Mädels, kommt! Lasst uns aufbrechen! Ich langweile mich zu Tode.“ Vijay schiebt Sophia und mich zurück in Richtung Parkplatz.
    „Hast du dir das Silicon Valley eigentlich so vorgestellt?“, fragt Sophia mich im Auto. „Komplett anders. Eher so wie Raumschiff Enterprise: Entwickler sitzen an übergroßen Computerbildschirmen und tüfteln den ganzen Tag vor sich hin. Aber da habe ich mich wohl ein bisschen getäuscht.“ Sophia und Vijay lachen. „Aber ist dir das in Deutschland bei deinem Praktikum nicht ähnlich ergangen? Du hattest doch bestimmt ein paar deutsche Vorurteile?“ Sie schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und überlegt. „Sophia hat die ganze Zeit nur Brezeln gegessen, Gartenzwerge poliert und Autos gewaschen“, scherzt Vijay. Mein strafender Blick in den Rückspiegel lässt ihn verstummen. „Ich hatte mir Deutschland auch anders vorgestellt. Alle waren die ganze Zeit so ernst und griesgrämig; dafür aber immer sehr pünktlich und effizient. Ich finde, dass wir Amerikaner gerne mit kürzerem Zeithorizont und mit höherem Risiko planen als die Deutschen. In München haben wir Entscheidungen oft monatelang diskutiert.“ Das kenne ich nur zu gut. „Was mir gefällt, ist, dass die Leute hier einfach die Chancen ergreifen, die sich ihnen bieten. Wir Europäer erledigen Aufgaben eher in den bekannten Bahnen und Abläufen und Qualität geht vor Geschwindigkeit“, erkläre ich die Unterschiede zwischen der deutschen und amerikanischen Arbeitsweise. „Frau Bayers, hört, hört“, lacht Vijay. „Also, ich finde es am
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