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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco
Autoren: Hanni Bayers
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museumsreifes Alter erreicht hat und sich in seiner Mittelkonsole ein bereits angebissenes Sandwich und eine offene Teeflasche befinden. Ich denke an die noblen Mercedes-Benz-Taxen mit weichen Lederbezügen in Deutschland und bin heilfroh, dass ich zumindest nicht mit einem Pickup-Truck abgeholt worden bin, bei dem ich womöglich im Fahrtwind auf der Ladefläche hätte sitzen müssen.
    „Bist du nur zu Besuch? Lebst du hier?“ Er ist nach dem Einwanderungsbeamten der Nächste, der mich mit Fragen bombardiert, ohne dass ich wirklich Lust auf Small Talk habe. „Ich komme aus Deutschland und werde hier für ein Jahr leben“, antworte ich knapp. Nicht jetzt! Ich bin müde, mein Mund fühlt sich trocken an, und meine Gedanken drehen sich lediglich darum, ob er die Sutter Street findet und was mich dort erwartet. „Kennst du eigentlich die Geschichte der Sutter Street?“, erkundigt er sich nun. Eine rhetorische Frage, denn sofort redet er weiter. „Die Straße ist nach Mister Sutter benannt worden, übrigens ein Bavarian guy .Das war der Mann, an dessen Sägewerk im Jahre 1848 der erste Goldklumpen entdeckt wurde. Der kalifornische Goldrausch, you know?“ Ich nicke kaum merklich und starre auf das Sandwich, dessen Gurkenbeilage dank seines sportlichen Fahrstils mittlerweile an seiner Teeflasche pappt. „Der Glückliche – zumindest am Anfang“, fährt er fort. „Trotzdem ist er sehr verarmt gestorben. Der eigentliche Held war Samuel Brannan – ein schlaues Kerlchen.“ Mein Taxifahrer blickt prüfend in den Rückspiegel, und ich setze schnell eine interessierte Miene auf. „Ja, Mister Brannan war der erste Millionär, der als Journalist und Unternehmer aus dem wertvollen Edelmetall seine Profite zog.“ Er macht eine kurze Pause, um seine volle Aufmerksamkeit auf das Rechtsabbiegen zu lenken. „Er hat nämlich alle Bestände an lebensnotwendigen Utensilien aufgekauft, um sie dann vollständig überteuert an all die Goldgräber zu verkaufen.“ Ein dickes Lächeln liegt auf seinen Lippen. „‚Gold! Gold! Gold im Fluss von Sacramento!‘, rief Brannan damals und rannte aufgeregt durch die Straßen. Oh, das muss eine Zeit gewesen sein ...“ Mein Taxifahrer strahlt. Ich frage mich, wieso sich mein Fahrer so gut auskennt. Der wiederum lässt kurz das Lenkrad los, streckt die Arme zum Himmel und fährt einen kleinen Schlenker, bei dem sein Tee im offenen Glasbehälter gefährlich in der Mittelkonsole schwappt. „Stell dir vor, damals hat ein einfacher Apfel in San Francisco fünf Dollar gekostet. Selbst in New York hättest du zur selben Zeit nur zehn Cent bezahlt.“ – „Du kennst dich aber gut aus“, bemerke ich anerkennend. „O ja, ich bin ein Tourguide, wenn ich nicht Taxi fahre – jedes Wochenende“, bricht es stolz aus ihm hervor, und er zeigt auf einen kleinen Ausweis, der an seinem Armaturenbrett steckt. Damit hat sich mein Vorurteil, dass Amerikaner oft zwei Jobs haben, bereits am ersten Tag bestätigt.
    Wenig später setzt er mich an meinem Ziel ab, und ich trete in den Apartmentkomplex im Stadtteil Lower Nob Hill .An der Rezeption sind die Schlüssel für mich hinterlegt. Das Gitter der alten Aufzugtür knarrt und krächzt. Im sechsten Stock angekommen, schließe ich die Tür zu meinem neuen Zuhause auf: Die Wände sind in einem matten Beige gestrichen und gerahmt mit weißen Stuckleisten. Der Boden, mit goldbraun glänzendem Parkett belegt, gibt knarrend nach, als ich den Raum betrete. In der Ecke des quadratischen Zimmers steht eine wuchtige braun-grüne Couch, und ein bisschen fühle ich mich in die Wohnzimmerkulisse der amerikanischen Serie „Friends“ versetzt. Auch wenn mich keiner empfängt, bin ich in diesem Moment einfach nur froh, dass mein Arbeitgeber mir für die ersten paar Monate in San Francisco ein kleines Studio zur Verfügung stellt. Völlig erschöpft falle ich ins Bett.
    Als ich aufwache, scheint die Sonne bereits hell ins Zimmer. Golden und warm fallen mir ihre Strahlen ins Gesicht und hüllen den Raum in einen samtig-weichen Schleier. Meine Armbanduhr verrät: Sieben Uhr bereits – ich habe erstaunlich lange schlafen können. Offensichtlich hat mein Körper die neue Zeitzone bereits inhaliert, in Deutschland ist es jetzt schon vier Uhr nachmittags. Nachdem ich geduscht habe, klappe ich den Stadtplan meines Reiseführers aus und schaue, wie weit es bis zum Büro ist. Das Büro sei unweit vom Ferry Building und der Market Street mitten im Bankenviertel, hatte ein
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