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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco
Autoren: Hanni Bayers
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Onboarding auf. „Das Wichtigste zuerst.“ Sie erklärt mir, dass ich eine Social Security Number , also eine Sozialversicherungsnummer, beantragen müsse. „Ohne Social Security Card kannst du weder ein Apartment mieten noch ein Bankkonto eröffnen noch krankenversichert werden. Du solltest heute hingehen.“ Dann lässt sie mich einige Krankenversicherungsformulare ausfüllen und überreicht mir ein Handy, das ich in den USA nutzen kann.
    „Guys, das ist Hanni aus Deutschland. Sie wird uns dieses Jahr hier unterstützen“, stellt sie mich wenig später dem Kollegenkreis vor. Ungefähr fünfzehn freundliche junge Gesichter lachen mir entgegen, und ich lächle verlegen zurück. Eines davon kenne ich glücklicherweise bereits: Vijay, ein Kollege indischer Abstammung, mit dem ich in Deutschland an einigen Projekten gearbeitet habe, als er für ein paar Wochen in der Zentrale einen Einsatz hatte. Schnell verliere ich die erste Scheu vor den Kollegen. Das Team ist viel internationaler als in Deutschland, und die Kollegen sind alle sehr offen, jung und interessiert. Ein bunter Mix aus Ländern wie England, China, Indien, Irland und Griechenland – ich fühle mich sofort wohl und irgendwie heimisch.
    Mittags mache ich mich auf, um meine Social Security Card zu beantragen. Noch keine fünf Minuten unterwegs, stolpere ich an einer Straßenecke beinahe über einen Mann, der auf einer Pappunterlage sitzt, vor ihm ein Schild mit der Aufschrift: „I bet you cannot hit me with a quarter!“ (Ich wette, dass du mich mit einem 25-Cent-Stück nicht treffen kannst.) Galgenhumor! In den Bordsteinrinnen der Straße liegen alte Flaschen, Stofffetzen, leere Tüten und Dreck. Die Gegend macht einen ärmlichen und verwahrlosten Eindruck. Bis zum Social Security Office sind es noch ein paar Blöcke. Doch je weiter ich gehe, desto leerer und verschmutzter werden die Bürgersteige und desto skurriler die Gestalten. Mittlerweilefühle ich mich in meinem weißen Blüschen und meinem Rock viel zu provokant für die Einfachheit dieses Viertels. Grau und dicht legt sich der Staub der Straße um meine neuen Riemchensandaletten, die ich für meinen ersten Bürotag extra noch in Deutschland gekauft hatte. An der letzten Kreuzung kurz vor meinem Ziel sitzt eine Gruppe Obdachloser; neben ihnen aufgerissene Schlafsäcke und bepackte Einkaufswagen. Kalifornisches Existenzminimum! Ich frage mich, ob dieses Viertel bereits zum Tenderloin, dem Armenviertel der Stadt, gehört. In meinem Reiseführer hatte ich gelesen, dass dieser Bezirk von Obdachlosigkeit und Armut geprägt ist. „And lots of crazy people“, hatte Vijay noch ergänzt. Ich solle mich also nicht wundern, wenn ich beispielsweise jemanden sehe, der samt Lampenschirm auf dem Kopf mitten auf der Kreuzung ein kleines Tänzchen aufführe und den gesamten Verkehr blockiere. Zügig gehe ich die Straße entlang. Im Social Security Office angekommen, ziehe ich eine Wartenummer, setze mich auf einen freien Platz in der Mitte der zwei langen Sitzreihen und schaue mich um: Auch hier trifft mein Blick auf heimatlose Menschen, gezeichnet von Alkohol, Drogen oder Armut. Oder Verrücktheit: Eine Frau mir schräg gegenüber schüttet sich aus unerklärbarem Grund eine Flasche Bodylotion über den Kopf und betropft dabei die Plätze neben sich mit duftender Creme. Dabei ruft sie ohne Pause Schimpfwörter und Obszönitäten in den Raum. Ein Mann, zwei Plätze weiter, fordert sein Gegenüber lautstark auf, seinen Hosenstall zuzumachen: „Your fly is open. Close it, dude!“ Das Gegenüber reagiert nicht, was Herrn Sittenwächter wütend macht. So streiten sich die beiden, und bevor die Auseinandersetzung in Handgreiflichkeiten endet, wird der Herr mit dem offenen Reißverschluss von einem Sicherheitsbeamten abgeführt. Einige Meter weiter befindet sich eine Gruppe von Obdachlosen, die alle an den Rollstuhl gefesselt sind. Keinedieser Hightech-Dinger, wie wir sie aus Deutschland kennen, sondern rostige Blechmonster, die bei jeder Bewegung laut quietschen. Darauf transportieren sie, ähnlich einem Wohnmobil, ihr Hab und Gut: Decken, Kisten, Nahrungsmittel und leere Flaschen. Am Rollstuhl einer alten Dame hängt ein Strauch vertrockneter Rosen, die wie ihre Besitzerin ihre besten Zeiten längst hinter sich haben. Wo sind die normalen Menschen, frage ich mich. Und was hat die Wartenden an den Punkt in ihrem Leben gebracht, an dem sie jetzt sind? Krankheiten, Drogen, persönliche Tragödien? Eine Anhäufung
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