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Ein Jahr in Andalusien

Titel: Ein Jahr in Andalusien
Autoren: Veronica Frenzel
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machen
würde.
    Gott sei Dank hatte Jaime nicht erwartet, dass ein Flamencostar in mir schlummert. Auch den Rest des Abends ist er witzig und charmant, bietet mir
seine Jacke an und kündigt an, als die Kirchturmglocken zwei Uhr schlagen, er werde jetzt zurück nach Málaga fahren. Mein Angebot, zu so später Stunde
das Auto lieber stehen zu lassen und bei mir zu übernachten, schlägt er aus. Dafür besteht er darauf, mich bis zu meiner Haustür zu begleiten und dass
ich ihn bald in Málaga besuchen kommen soll. Bevor ich mich schlafen lege, ziehe ich mir einen dicken Pullover über und setze mich auf die Terrasse. Vor
mir liegt die beleuchtete Alhambra. In ein paar Wochen werde ich mich auf den Weg nach Málaga machen und mir Jaimes Zuhause näher ansehen.
    Als ich am nächsten Morgen zu meiner Lieblingsbar schlendere, die Tageszeitung El País unterm Arm, begegnet mir Esther. „Hola Gordi“, sagt sie. Als
sie mich das erste Mal mit „Hallo Dicke“ ansprach, musste ich schlucken. Doch als ich sie fragte: „Meinst du das ernst?“, musste sie
loslachen. Mittlerweile weiß ich, dass es sich dabei um eine liebevolle Anrede unter Freunden handelt. Dennoch zählt Gordi eindeutig nicht zu meinen
liebsten andalusischen Kosenamen. Guapa – Hübsche, Chula – Coole oder Chiqui – Kleine höre ich viel lieber. Esther ist auf dem Weg zu einem
Bewerbungsgespräch, doch in Gedanken schon beim nächsten Wochenende. Sie lädt mich ein, gemeinsam mit Pedro und ihr Freunde in der Alpujarra zu
besuchen. Ich sage sofortzu, die Berggegend an den Südhängen der Sierra Nevada hat mich immer schon fasziniert, das Erbe der
maurischen Besatzer ist dort so lebendig wie an wenigen anderen Orten in Andalusien. Die Häuser mit den flachen Schieferdächern und den dicken, weiß
gekalkten Mauern standen schon vor fünfhundert Jahren genau so in der unzugänglichen Berglandschaft. Am Wegrand der alten Dorfverbindungswege sprudelt
es in offenen Wasserleitungen, den Acequías, die die Mauren angelegt haben, um das schroffe Land fruchtbar zu machen. An den steilen Hängen der
Alpujarra wachsen Oliven-, Mandel- und Zitronenbäume auf den von den Mauren errichteten Terrassenfeldern. Dass in der Alpujarra das Erbe von
Tausendundeiner Nacht so gut erhalten ist, hat einen einfachen Grund: Als die spanische Krone im Jahr 1570 alle Muslime und islamischen Konvertiten nach
blutigen Aufständen des Landes verwies, machten die kastilischen Könige eine einzige Ausnahme. In der Alpujarra sollten in jedem Dorf zwei
Maurenfamilien bleiben, um den Neuankömmlingen aus Kastilien zu zeigen, wie man in der unwegsamen Berggegend überleben kann.
    Am Freitagmittag ruft mich Esther an, ich solle unbedingt Schlafsack und Isomatte einpacken; bei ihren Freunden gebe es keine Gästebetten. Als ich mit
gepacktem Rucksack um kurz nach fünf Uhr bei Esther klopfe, ist sie noch nicht fertig, Pedro noch nicht einmal von der Arbeit zurück. Wir hatten um zwei
Uhr ausgemacht, in drei Stunden loszufahren, doch Zeit ist für sie, wie für die meisten Andalusier, ein sehr dehnbarer Begriff. „Hast du deine
Wanderstiefel dabei?“, fragt sie mich und geht in die Küche, wo sie gerade Taboulé – einen marokkanischen Salat mit Couscous, Tomaten, Zwiebeln, Minze
und Zitronensaft –, selbstgemachtes Humus – Kichererbsenpaste – und Fladenbrot in eine Kühlbox packt. „Zu unseren Freunden müssen wir nämlich ein
paar Kilometer über Stock und Stein laufen.“
    Vor meinem inneren Auge taucht ein abgelegenes Bergdorf auf, zu dem nur alte Hirtenpfade führen und in dem die Zeit stehen geblieben
ist – genau so, wie es der britische Schriftsteller und Spanienkenner Gerald Brenan in seinem Buch „Südlich von Granada“ beschreibt. Er wollte Anfang
des 20. Jahrhunderts der britischen Klassengesellschaft entfliehen und fand 1922 einen Rückzugsort in der Alpujarra. Er ließ sich in Yegen, einem Dorf
der Alpujarra, nieder, wo er genau den Kontrast zu seinem bisherigen Leben fand, den er suchte. Die Menschen waren einfach, das Zwischenmenschliche
spielte die Hauptrolle, die Hierarchiestufen, wenn es sie denn gab, waren flach. Dort zog er sich zurück zum Lesen, Studieren und Denken. Doch bald
richtete Brenan seinen Blick immer mehr auf das Dorf und seine Bewohner. „Don Gerardo“ hieß er bald, er wurde Teil der Dorfgemeinschaft und zeugte
mehrere Kinder mit verschiedenen Frauen des 300-Seelen-Dorfs. Aus diesen Erlebnissen und Beobachtungen entstand sein Buch „Südlich von
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