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Ein Jahr in Andalusien

Titel: Ein Jahr in Andalusien
Autoren: Veronica Frenzel
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Fleischwerdung bedeutet, ganz und gar nicht mit ihrer vegetarischen Überzeugung zusammenpasst, hat sie die Buchstaben ihres Vornamens
einfach neu geordnet und Nicaren daraus gemacht.
    Wir gelangen zum Ende des Tals, auf der rechten Seiteschraubt sich ein schmaler Pfad in die Höhe. Die Kühltruhe hat Pedro jetzt auf
seine Schulter gehoben. Nach zehn Minuten Aufstieg stehen wir schwer atmend auf einer Ebene oberhalb des Tals, unten liegen die bunten Zelte. Sie sehen
jetzt winzig aus. Wir stellen unser Gepäck ab und holen tief Luft. Hier oben ist es viel ruhiger; es gibt zwar auch Zelte und Hütten, aber das Lager ist
überschaubar und stabile Buden sind in der Überzahl.
    Die meisten Bewohner scheinen sich in ihre Heime zurückgezogen zu haben, kaum jemand ist unterwegs. Doch plötzlich wird die Ruhe jäh unterbrochen. Eine
junge Frau läuft schreiend auf uns zu, ein Blick auf den freudigen Gesichtsausdruck von Pedro und Esther verrät mir, dass es sich um Nicaren
handelt. Sie trägt eine bunte Wolldecke, die sie einmal gefaltet hat und in deren oberen Rand sie ein Loch für den Kopf geschnitten hat, darunter
ausgewaschene Blue Jeans. Zusammen mit Henry, einem Engländer, der seit Jahren in der Alpujarra lebt, hat sie in Beneficio eine kleine Hütte aus Holz
gebaut, als Dach dient eine dicke Plastikplane. Nicaren begrüßt auch mich so, als würde sie mich immer schon kennen. Dann zeigt sie mir ihre kleine
Welt. Das Mittagessen bereiten sie auf einem Gaskocher zu, die Dusche besteht aus einem Eimer, einem kleinen Becher und einem Schwamm. Das Wasser holen
sie in großen Kanistern aus dem Tal, wo es eine Quelle gibt. Vor ihrer Hütte haben Nicaren und Henry einen großen Jarapa-Teppich ausgebreitet – er ist
das Wohnzimmer. Diese typischen Alpujarra-Teppiche stellen die Frauen der Dörfer im Poqueira-Tal aus bunten Textilresten seit Generationen her, in den
drei Dörfern Pampaneira, Bubión und Capileira hängen die Jarapas von Balkonen und Fenstern, in manchen Läden kann man den Frauen auch beim Weben
zusehen.
    Wir lassen uns auf dem weichen Teppich nieder und beobachten, wie die untergehende Sonne die Berglandschaftin ein milchiges Orangerot
taucht. Ich erfahre, dass Henry Musiker ist und Nicaren, um über die Runden zu kommen, früher gekellnert hat. Von Lohnarbeit hält sie jedoch anscheinend
nicht allzu viel, jetzt singt sie zu den Liedern von Henry und knüpft Armbänder, die sie auf dem Wochenmarkt in Orgiva an Urlauber verkauft. „Wie kann
es ein solches Lager mitten im Naturpark geben?“, frage ich sie. „Das Tal von Beneficio ist seit mehr als zwanzig Jahren von Hippies besetzt. Die
Gründer haben damals einen Teil des Geländes gekauft, um eine Kommune zu gründen. Doch es kamen immer mehr Menschen, das Grundstück war schnell zu
klein, und die Neuankömmlinge begannen, das Land ringsherum zu besetzen. Die Polizei ist nie eingeschritten“, erzählt Nicaren. „Heute leben fast
hundert Menschen ständig hier, dazu kommen regelmäßig Besucher aus der ganzen Welt, die ein paar Wochen oder sogar Monate bleiben. Wir versuchen immer
noch, gemeinsam zu leben, aber das ist gar nicht so einfach.“ Regelmäßig, so erfahre ich, treffen sich die Bewohner von Beneficio in dem Tipi, das wir
auf dem Weg zu Nicarens Hütte gesehen haben. Dort sprechen sie über das Leben im Lager und über die Probleme mit den benachbarten Bauern, die immer
wieder bei der Gemeinde von Orgiva klagen, die Hippies würden ihnen das Gießwasser wegnehmen und das Tal verschmutzen. „Dabei ist der Respekt gegenüber
der Natur eine der wichtigsten Regeln in Beneficio“, empört sich Nicaren. „Wir recyceln und benutzen nur das Wasser, das in unserem Tal entspringt. Die
Acequía der Bauern fassen wir nicht an.“
    Die Sonne verschwindet hinter den Gipfeln und augenblicklich wird es kalt. Wir ziehen alles an, was wir dabeihaben, während Nicaren den Gaskocher
anmacht, um einen Bohneneintopf aufzuwärmen, und Henry seine Gitarre auspackt. Aus dem Tal dringen die Töne afrikanischer Trommeln zu uns, das Lied, das
Henry anstimmt, klingt fast so,als würde er sie begleiten. Nachdem wir Eintopf, Salat und Fladenbrot vertilgt haben, schmettern wir
gemeinsam Beatles-Lieder. Henry und ich müssen immer wieder über die Lautmalereien der Spanier lachen. Keiner der drei kann Englisch, die Lieder haben
sie aber schon tausend Mal gehört; hemmungslos und voller Hingabe posaunen sie deshalb unsinnige Aneinanderreihungen von Vokalen und Konsonanten
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