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Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)

Titel: Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Autoren: Martina Nohl
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Zugticket gönnen sollen, dann wäre sie jetzt in München. Aber
München oder Heidelberg, was spielte das schon für eine Rolle? Hauptsache, sie
war möglichst weit weg von zuhause.
    Ihre Fähigkeit, sinnvoll zu handeln, schien abhandengekommen
zu sein. Innere Leere war in jede Zelle ihres Körpers gekrochen und hatte
keinen Platz für vernünftige Entscheidungen übrig gelassen. Sie fühlte sich,
als ob ein ferngesteuertes Programm sie überleben ließ und die wichtigsten
Körpervorgänge regulierte, ohne dass sie als ganze Person daran beteiligt
wurde.
    Es hatte angefangen zu nieseln. Sie fror, obwohl es erst
Anfang Oktober war und man hier im Süden doch einen warmen Altweibersommer
erwarten sollte.
    Sie hörte eine, dann zwei Kirchturmglocken schlagen,
automatisch zählte sie mit. Nun war es also schon sieben Uhr. Sie schnappte
ihre Reisetasche und begann sich auf die Suche zu machen nach einem Zimmer für
die Nacht. Sie sah sich um, wer wohl ein Einheimischer sein könnte unter all
den Touristen, die den Weg durch das Brückentor Richtung Altstadt nahmen, um
dem beginnenden Regen zu entfliehen. Dort schloss ein weißhaariger Herr sein
Fahrrad auf. Sie trat zu ihm und fragte, ob er wisse, wo sie vielleicht in der
Altstadt günstig übernachten könne: „Probiere Se’s mol in der Pension vun der
Fraa Bender in der Kanzleigass. Sie müsse do nuff, halte se sisch dann vorne an
der Strohßelatern rechts und immer weida und dann kann ihne gar nix mehr
passiere!“ Fast hätte sie gelacht, das war ja mal ein Dialekt … Aber irgendwie
klangen die Worte tröstlich und bodenständig, als könne ihr wirklich nichts
mehr passieren.
    Sie beugte sich in dem altmodisch-gemütlichen Zimmer über die Bettdecke und schnupperte an ihr. Ja, hier
konnte sie bleiben. Erschöpft ließ sie sich rücklings auf das Federbett
fallen. Als sie die Augen schloss, sah sie Fred, wie er in der Badezimmertür
stand und sie zum Lachen brachte, wenn sie sich schminkte, so dass sie den
Lidstrich verwackelte und wieder von vorne anfangen konnte. Sie sah ihn mit
seinem Kumpel Marco, die Füße auf dem Couchtisch und den Laptop auf den
Oberschenkeln hingebungsvoll in CRISIS2, oder was auch immer sie so täglich spielten,
vertieft. Oder sie erinnerte sich daran, wie er früher am Wochenende so gegen
zwölf Uhr müffelnd aus seinem Zimmer geschlurft kam und sie ihm den Platz neben
sich am Frühstückstisch freiräumte, worauf er sich ein müdes kleines Lächeln
abrang.
    Wie wenig hatte sie diese tausend kleinen Momente mit ihrem
großen kleinen Bruder zu schätzen gewusst. Wie kostbar erschienen sie ihr jetzt
im Rückblick. Gerne wollte sie ihren Erinnerungsschatz fest verschließen, damit
nur ja keine einzige verloren ging.
    So war das also, wenn jemand stirbt, der einem sehr nahe
steht. Ihre beiden Großmütter waren zwar auch gestorben, aber das hatte sie als den Lauf der Welt empfunden.
Emily hatte manchmal gedacht, dass sie bisher von größeren
Schicksalsschlägen verschont worden war, und das als ein wenig ungerecht
empfunden. Als sie dann am offenen Grab stand und auf den Sarg hinunterschaute,
in dem angeblich Fred liegen sollte, hätte sie doch liebend gerne auf diese
Erfahrung verzichtet. Sie war nicht in der Lage gewesen, Erde auf den Sarg zu
werfen, weil sie fühlte, dass es ihm wehtun könnte oder dass das laute Rumpeln
ihn irgendwie stören würde. So hatte sie ein paar bunte Astern, die in ihrer
warmen Hand inzwischen welk geworden waren, behutsam hinabgleiten lassen und
ihn so verabschiedet. Ihre Eltern standen neben ihr und hielten sich aneinander
fest. Wie gerne hätte sie jemanden gehabt, der sie in dem Moment gestützt
hätte, als sie da stand und der Boden sie nicht mehr zu tragen schien. Dass da
niemand war, war kaum auszuhalten gewesen.
     
    Sie schüttelte sich, um
die schweren Gedanken abzuwerfen und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem
Augenwinkel. Schon stand sie mit anderen Studierenden vor dem schwarzen Brett
in der Triplex-Mensa und las die Angebote durch. Babysitting, Putzhilfe,
Schreibkraft, Lagerarbeiten, Promotion von Werbeartikeln, Marktforschung,
Umzugshelfer waren so die üblichen, durch die Bank gering bezahlten Jobs. Neben
ihr stand plötzlich die Frau mit dem langen Zopf aus der
Soziologieveranstaltung und studierte ebenfalls interessiert die
Stellenausschreibungen. „Hallo“, sagte Emily schüchtern, „Du bist doch auch bei
den Soziologen, suchst du auch einen Nebenjob?“ Sie hätte sich auf die
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