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Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Ein Hummer macht noch keinen Sommer

Titel: Ein Hummer macht noch keinen Sommer
Autoren: Tanja Wekwerth
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chronisch entzündete Stirnhöhlen bekommen. Er kündigte, um sich ganz der Malerei widmen zu können. Diese Entscheidung war eine der wichtigsten in seinem Leben, die zwar mit einem finanziellen Desaster einherging (nun ja, so schlimm nun auch wieder nicht, denn Theodor war ja da), doch David fühlte sich seitdem so herrlich selbstverwirklicht. Er war damals noch nicht einmal dreißig Jahre alt gewesen, und das Leben wurde immer verheißungsvoller. Inzwischen pulsierte Berlins Mitte wieder. Studenten, Künstler, junge, hippe Leute lebten dort. Die Boheme. Und deswegen musste David auch dorthin. Theodor hatte Verständnis gehabt und ihn moralisch und finanziell unterstützt. Seitdem war David selig, er hatte das Gefühl, in einer selbst erschaffenen, virtuellen Welt zu leben. Er liebte die Nächte im Atelier, eingehüllt in Stadtgeräusche und den Geruch von Farbe. Er liebte »seine süße, kleine Auguststraße«: den Tapas-Teller im ruz , hausgemachten Apfel-Möhre-Ingwer-Saft aus der Fresh Eatery , die Dachterrasse der Amano-Bar .
    Und mich, würde Theodor an dieser Stelle sagen, mich liebst du nicht, oder was? Sie hatten schon so oft deswegen gestritten. In letzter Zeit immer häufiger. Theodor schien wie besessen von der Idee, mit David zusammenzuleben, und brachte die Sprache immer wieder darauf. David war es leid. Vielleicht sollte er Theodor seinen Willen lassen? Das Atelier würde er ja nicht aufgeben, er würde weiterhin jeden Tag dort malen und abends mit dem Fahrrad nach Charlottenburg fahren, um mit Theodor den Abend und die Nacht zu verbringen. Sehr bürgerlich kam ihm dieser Lebensplan vor. Und er gefiel ihm überhaupt nicht. Er würde seine Freiheit aufgeben, sich nicht mehr spontan mit seinen Aktmodellen auf ein Bier verabreden können, um mit ihnen über die Touristenscharen, die Kunstszene und die Halsabschneider von Galeristen zu lästern, und dann weiterziehen, in die nächste Bar. Mit einem seiner Modelle landete er für gewöhnlich wieder im Atelier. Man küsste sich, manchmal auch mehr. Man trank Espresso und beobachtete, wie der Himmel hinter den Atelierfenstern seine Farbe veränderte.
    Seit einigen Wochen war David vernarrt in Tim, ein schwarzes Unterwäsche-Model aus San Francisco. Er hatte ihn schon mehrfach gemalt, ohne Unterwäsche, dafür mit einer Osram-Glühbirne in der Hand. Er hatte so energetisch ausgesehen: der schwarze Muskelmann, ein modernes Lichtsymbol haltend. Wie Luzifer, der gefallene Engel. Ein Triptychon wollte David zu diesem Thema malen, ein Tim-Triptychon mit der Bay Bridge im Hintergrund.
    Das und viel mehr kann ich mir dann wohl vorerst von der Backe putzen, dachte David. Adieu, Berlin-Mitte. Adieu, künstlerische Freiheit, Adieu, Tim …
    » Je suis excessivement triste «, sang Carla Bruni nicht besonders traurig.
    David räusperte sich. Vielleicht ging Theodor ja auf einen Kompromiss ein? »Was hältst du von folgender Idee? Du verkaufst die Wohnung hier, und mit dem Geld suchen wir uns etwas Passendes am Prenzlauer Berg, vielleicht zwei Wohnungen in einer netten Hausgemeinschaft.«
    Theodors Augen verengten sich. »Bin ich eine zwanzigjährige Studentin aus Wuppertal, oder was? Der Prenzlberg! Das kann nicht dein Ernst sein. Da wohnen die, die es nicht besser wissen.«
    Ein lautes Seufzen entfuhr Davids Brust.
    Theodor beobachtete ihn scharf. Davids träumerischen Blick aus dem Fenster hatte er als ein Versinken in Erinnerungen gedeutet, das kaum merkliche Hochziehen seiner Schultern als ein Fügen ins Unvermeidliche. Und jetzt kam er ihm mit dem Prenzlauer Berg. Theodor wurde immer wütender. Was war so grässlich daran, nach Charlottenburg zu ziehen, mietfrei in einer Sieben-Zimmer-Altbau-Wohnung zu leben, deren einziger Nachteil darin bestand, dass sie keinen Balkon hatte? Dafür lag ihr der Lietzenseepark zu Füßen. Theodor hatte diese Traumwohnung Mitte der Siebzigerjahre von einer alten Tante geerbt, an die er sich kaum erinnern konnte. Deswegen hatte er damals, ein junger Student der Psychologie, auf dem Luisenfriedhof auch nicht besonders unglücklich ausgesehen, als die Tante beerdigt wurde. Aber er fühlte sich ihr auf eine tiefe, unaussprechliche Weise verbunden und bekundete dies durch das Niederlegen eines imposanten Blumenkranzes.
    Meiner Tante. In Liebe und Dankbarkeit. Theodor.
    Nach der Trauerfeier war Theodor in Hochstimmung gewesen. In einem Taxi hatte er sich in seine Wohnung chauffieren lassen, unterwegs wies er den Fahrer an, kurz vor einem
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